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Politik: „Heute fühle ich mich als Iraker“

Die Kurden feiern die Wahl ihres Führers zum Präsidenten – Dschalal Talabani will die Volksgruppen einen

Es ist ein ungewöhnlicher Anblick: Männer in Militärstiefeln und tarnfarbenen Uniformen tanzen auf der Hauptstraße von Suleimanija im Nordirak. Die Soldaten der kurdischen Sicherheitskräfte wackeln rhythmisch mit den Schultern, singen, klatschen, jubeln. Ein Verkehrspolizist, machtlos gegen den Ansturm der Menschen, die hupend mit ihren Autos durch die Innenstadt kurven, hakt sich unter und tanzt mit. Überall werden Fotos geschwenkt vom frisch gewählten Präsidenten Dschalal Talabani, den in Suleimanija alle nur „Mam Dschalal“ nennen, Onkel Dschalal. Mädchen in golden glitzernden Kleidern winken, die älteren Jungen haben sich Talabanis Foto auf den Bauch und das grüne Band seiner Partei, der Patriotischen Union Kurdistans, um die Stirn gebunden. Suleimanija feiert „den glücklichsten Tag in unserem Leben“, wie es eine Studentin begeistert formuliert.

Am Mittwoch hat das Parlament in Bagdad den Kurdenführer Talabani mit 227 von 275 Stimmen zum neuen irakischen Präsidenten gewählt. Nach zwei Monaten zäher Koalitionsverhandlungen zwischen der schiitischen Mehrheitspartei und der Vereinten Kurdischen Liste ist damit der wichtigste Schritt zur Formierung der ersten frei gewählten Regierung im Irak gemacht. Zu Talabanis Stellvertretern bestimmten die Abgeordneten den Schiiten Adel Abdul Mahdi und den bisherigen Übergangspräsidenten, den Sunniten Ghasi al Jawar. Damit sind die wichtigsten Volksgruppen des Irak im Präsidium vertreten. „Dies ist der neue Irak“, erklärte Parlamentspräsident Hajem al Hassani nach der Auszählung der Stimmen, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Ein Irak, der einen Kurden zu seinem Präsidenten wählt und einen ehemaligen Präsidenten und Araber zu seinem Stellvertreter. Was kann die Welt mehr von uns erwarten?“ Zwei Wochen hat Talabani nun Zeit, einen Ministerpräsidenten zu ernennen. Dafür vorgesehen ist der Schiit Ibrahim al Dschaafari.

In Suleimanija sitzt eine Gruppe junger Kurden vor dem Fernseher und verfolgt die Parlamentssitzung in Bagdad. Unter Saddam Hussein waren die Kurden brutal unterdrückt worden, bis sie nach dem Golfkrieg von 1991 mit Hilfe der Alliierten Autonomie erlangten. Als das Ergebnis der Wahl bekannt gegeben wird, klatschen die jungen Männer und gratulieren einander. „Heute fühle ich mich als Iraker, mehr als je zuvor“, sagt Hadi Mohammed. „Trotzdem wünsche ich mir, dass ich eines Tages einen Reisepass brauche, um nach Bagdad zu fahren“, ergänzt sein Freund Mahdi Mohammed. So oft die politischen Führer der Kurden ihr Bekenntnis zur irakischen Einheit beteuern – der Wunsch nach einem unabhängigen Kurdistan ist im Norden so allgegenwärtig wie die Porträts Talabanis. Nach der Zeremonie essen die Freunde zur Feier des Tages gemeinsam Truthahn – das Lieblingsessen von Talabani.

Jassin al Duleimi ist nicht zum Feiern zumute. Der Radiojournalist aus Ramadi in der sunnitischen Provinz Anbar hält sich zur Fortbildung in Suleimanija auf und mag die Freude der tanzenden Kurden nicht teilen. „Es wird sich nichts ändern, nur weil es jetzt einen gewählten Präsidenten gibt“, sagt er mit grimmiger Miene, „die Anschläge werden weitergehen“. Duleimi hat bei der Parlamentswahl am 30. Januar nicht gewählt, „bei uns in Ramadi ist kaum jemand wählen gegangen. Die Lokale waren fast alle geschlossen. Wen hätte ich auch wählen sollen?“ Nach einem Aufruf zum Wahlboykott hatten viele sunnitische Parteien ihre Kandidaten zurückgezogen. Jetzt verfügt die Volksgruppe, die in Gefolgschaft von Saddam 35 Jahre lang das Land beherrschte, nur über 17 Abgeordnete in Bagdad.

Talabani versprach am Mittwoch im Parlament, er werde mit allen ethnischen und religiösen Gruppen im Irak zusammenarbeiten. Ob er es schafft, auch skeptische Sunniten wie Jassin al Duleimi davon zu überzeugen, dass er der Präsident aller Iraker ist, wird sich zeigen.

Susanne Fischer[Suleimanija]

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