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Politik: Heute vor 100 Jahren

Von Tissy Bruns

Warum denn weinen, wenn man auseinander geht? In der Politik gibt es keine Dankbarkeit, das wusste schon Helmut Kohl, der Altkanzler. Drum trauern wir seinem Nachfolger nicht nach; wir freuen uns an der Neuen, die gut gestartet ist. Die eigentlichen Großtaten ihrer Regierung stehen noch aus, doch das entspricht dem Plan und gute Stimmung hat im Land der Miesepeterei ihren eigenen Wert. Wer neu anfangen will, schaut nicht nach hinten. Zur 100-Tage-Bilanz der großen Koalition gehört deshalb eine Nebenwirkung. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie übersehen wird: Schröder, Fischer und Rot-Grün, sie sind vergessen, als sei das alles hundert Jahre her.

Nur selten stellt sich die erstaunte Frage ein: Warum? Heute zum Beispiel wird Gerhard Schröder Ehrenbürger der Stadt Hannover. Sein loyalster Helfer im Kanzleramt, Frank-Walter Steinmeier, kehrt gerade aus Asien zurück, wo er als Außenminister einen weiteren Beitrag dazu geleistet hat, dass es uns nicht mehr kümmert: Was macht eigentlich Joschka? Der Ex- und Wieder-Fraktionschef Peter Struck presst beim Auftakt der 100-Tage-Feierlichkeiten gerade noch heraus, dass er eigentlich lieber Rot-Grün regiert hätte. Sein schwarzer Amtskollege Volker Kauder bekennt sich darauf pflichtgemäß zu einem unbestimmten „anders“; er sagt nicht einmal Schwarz-Gelb. Dieser Neuanfang hat nicht stattgefunden, ihm fehlte immer, was Schröder und Fischer auch in dunklen Tagen umrankt hat: Rot-Grün war ein Mythos, der desto heftigerer gefühlvoller Betrachtungen wert war, je mehr er über die Jahre verblasste.

Weil die Emotionen immer dann besonders wogten, wenn Schröder und Fischer es schlecht gemacht haben, kann das tränenlose Vergessen in den zurückliegenden hundert Tagen nicht mit dem sachlichem Versagen der rot-grünen Regierung erklärt werden. Mit Irakkrieg und Reformagenda haben die sieben Schröder-Jahre ihren Eintrag im Geschichtsbuch, der den Betrachtern gefallen kann – oder auch nicht.

Es sind immer die vormaligen Inhaber der Macht, die nach Regierungswechseln das Erbe hochhalten und die laute Klage anstimmen, dass die neuen verspielen, was die Vorgänger geschaffen haben. In den 80er Jahren beschworen Sozialdemokraten die Gefahr der schwarzen Republik unter Helmut Kohl. Nach 1998 fanden CDU und CSU genug Stoff für die alte Selbstgewissheit, dass sie selbst, nicht Rot-Grün, die geborenen Regierungsparteien in Deutschland seien.

Der Wechsel zur großen Koalition macht auch diese gewohnten Trauerrituale unmöglich. Die grüne Opposition ist zu verunsichert, um die Rolle des authentischen rot-grünen Erben spielen zu können. Die SPD, Schröders Partei, will es nicht. Nicht nur, weil sie weiter regiert und ihr altes Personal nun in der neuen Regierung arbeitet. Rot-Grün hat die SPD so viele Mitglieder, Wählerstimmen, Parteivorsitzende und Landesregierungen gekostet, dass jenes Gefühl nicht ausbleiben konnte, das lange Abschiede immer begleitet: die große Erleichterung, wenn es endlich vorbei ist.

Es fehlen die Enterbten, die nach dem Rächer rufen. Deshalb ist Rot-Grün nach hundert Tagen vergessen. Es ist auch das kleine schlechte Gewissen der Davongekommen, die nicht zurückschauen wollen. Darüber kann man später nachdenken – vorn sind die neuen Aufgaben, der Erfolg der großen Koalition, der wichtiger ist als vergangene Mythen, mit denen es einfach nicht mehr weiterging.

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