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Politik: Hinter den Linden: Fähigkeit zu staunen

Berlin ist viel größer als Bonn. Das kann man inzwischen zu sagen wagen, ohne sich dem Verdacht des preußischen Größenwahns auszusetzen.

Berlin ist viel größer als Bonn. Das kann man inzwischen zu sagen wagen, ohne sich dem Verdacht des preußischen Größenwahns auszusetzen. Man kann es nämlich, rein zahlenmäßig, beweisen. Die Einwohnerstatistik belegt die Richtigkeit der Behauptung. Aber Berlins Einwohner, die Berliner, sind dennoch, auf eine anrührende Art, unverbildet und gar nicht großstädtisch geblieben. Wir reden von der Neugier der Berliner, mit der sie sich in geradezu unschuldiger Provinzialität alles Neue aneignen, von ihrer ungebrochenen Fähigkeit, zu staunen und sich an all dem zu erfreuen, was die Hauptstadtwerdung an aufregenden Dingen mit sich gebracht hat.

Als die nordischen Botschaften am Klingelhöfer Dreieck an einem Wochenende zum Tag der offenen Tür geladen hatten, es ist schon einige Monate her, standen 15 000 Menschen Schlange, um auch von innen zu betrachten, was schon von außen so überaus gelungen wirkte. Als jetzt im Rahmen der langen Nacht der Museen in die neue mexikanische Botschaft, an gleicher Adresse, eingeladen wurde, standen wieder tausende Schlange. Sie waren nicht wegen des Corona-Bieres gekommen, das drinnen ausgeschenkt wurde. Ähnliches hatte das Auswärtige Amt beobachtet, als es die Berliner zur Besichtigung der neuen Räumlichkeiten einlud, und Eingeweihte sagen uns, dass unter dem gläsernen Dach der Reichstagskuppel nach wie vor mindestens genauso viele Berliner wie Touristen auf die Stadt schauen. Wollen wir hoffen, dass die Triebfeder genau jenes Gefühl ist, das die Gäste Berlins oft an den Berlinern vermissen: Dass Gefühl, dass sie ihre eigene Stadt auch ein kleines bisschen lieben.

Gerd Appenzeller

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