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Hintergrund: Wer ist das Volk?

Es ist vielfältiger geworden. Wenn auch nicht gerade zahlreicher. Dass es zunehmend in Bewegung ist, lässt die Regierenden ratlos zurück. Über das Volk.

Von Caroline Fetscher

WOHER KOMMT DAS WORT VOLK?

Oben im Giebelfeld des Berliner Reichstags stehen die Worte: „Dem deutschen Volke“. Sie wurden 1915 in den 1894 erbauten Reichstag gemeißelt. Ein Lokalblatt wies damals darauf hin, dass das Volk ja den Bau finanziert hatte, also de facto Eigentümer sei. Daher könne das Gebäude nicht zugleich „dem Volke“ gewidmet sein. An diese Logik erinnerten sich die Einwohner der DDR, als sie 1989 auf die Straßen zogen und den Funktionären in der Regierung zuriefen: „Wir sind das Volk.“ Schon 1789 hatten die revolutionären Franzosen sich darauf berufen, als das „peuple français“ die Republik ausrief, entstanden aus „res publica“, die „öffentliche Sache“, der lateinischen Bezeichnung für das Römische Volk. Kaiser Wilhelm dem II. war die Reichstags-Widmung nicht geheuer. Erst 1915 stimmte er der Inschrift zu, um im Ersten Weltkrieg Gemeinsinn und Heimatfront zu stärken.

Mit der nationalsozialistischen Mythisierung und Biologisierung des „Volkes“ wurde der Begriff kontaminiert und stand fortan unter Verdacht. In der Präambel des Grundgesetzes von 1949 taucht das Volk wieder auf, ebenso in der Verfassung der DDR aus demselben Jahr. „Volk“ als Menschenmenge wurde lange für „einfaches Volk“ verwendet, später als Begriff für eine Großgruppe mit gleicher Sprache oder Ethnie. Hingegen besteht ein Staatsvolk aus der Bevölkerung, dem Demos als Souverän der Demokratie, was mit Ethnie nichts mehr zu tun hat. Der Begriff leitet sich her von „volc“ oder „folc“, „fulka“, was so viel hieß wie „Kriegsschar“ und im achten Jahrhundert zum ersten Mal auftaucht als Bezeichnung für „viele“ – das klingt zum Beispiel nach in „Pulk“. Auch die Bedeutung von „folc“ als „führen“ weist das etymologische Standardwerk von Kluge nach.

WIE VIELE GRUPPEN HAT DIE HEUTIGE BEVÖLKERUNG?

Viele. Deutschland ist eine Industrienation. Tatsächlich arbeiten in dem Land, obwohl es Vize-Exportweltmeister ist, heute mehr Frauen und Männer in Dienstleistungsberufen als in der Industrie, während sich Konsumverhalten und Freizeitmöglichkeiten rasant verändern. Immer mehr Interessengruppen und „Parallelgesellschaften“ entstehen, ein Kaleidoskop an Zielen und Zwecken bestimmt ihr Tun, ein Puzzle aus Partikularinteressen ist das Resultat. Indikator für den Trend ist, neben der Zunahme von Wechselwählern und der Anzahl von Parteien im Parlament, die weiter wachsende Vereinskultur. Wo drei Deutsche versammelt sind, lautet ein ironischer Spruch, da gründen sie einen Verein. Und diese Tendenz nimmt zu. Im Sommer 2008 zählte man 554 401 eingetragene Vereine (e.V.) in Deutschland, etwa 6743 Vereine pro eine Million Bundesbürger. Aktiv sind die Bundesbürger in Tausenden von Sportvereinen für Fußball, Angeln, Tennis, Surfen, Rudern, in Vereinen für Hundezucht, Karneval, Motorsport. Sie versammeln sich als Sänger, Heimatfreunde, Freizeitfunker, Camper, Naturschützer, Steuerkritiker, Kunstfreunde, Moscheebauer, Asylhelfer, Atomgegner, Lesepaten. Allen hilft dabei die Vernetzung durch sich explosiv entwickelnde elektronische Datenübertragung per Internet und Mobiltelefon. Und natürlich existieren inzwischen längst eigens Vereine für „Videospielkultur“. Immer spezialisierter werden die Ziele der Gruppen. Getrennte Väter organisieren sich ebenso zu Selbsthilfevereinen wie Menschen mit chronischen Krankheiten oder Retter von Baudenkmälern, denen es um einen ganz bestimmten Bau geht.

In der Vielzahl der Gruppen und Subgruppen ist „der traditionsreiche Verein“ nicht mehr die geltende Norm, vielmehr organisieren sich Bürger spontan, wie soeben die Sarrazin-Fangruppen, um ein zeitlich begrenztes Anliegen zu formulieren und dafür als Lobbyisten öffentlich zu werben, zu protestieren oder gar zu prozessieren. „Das Volk“ ist in Bewegung, die Bevölkerung organisiert sich – und die Politiker kratzen sich am Kopf. Auf alte Parteiloyalität, auf ruhiges Von-oben-herab-Regieren ist kein Verlass mehr. Neben der Politikverdrossenheit machen sich die Störenfriede und Aktivisten bemerkbar, und unter ihnen finden sich durchaus gutbürgerliche Akteure. In den Talkshows hat man für diese Klientel das „Betroffenen-Sofa“ eingerichtet, auf dem neben den üblichen Prominenten der Experte aus der Bevölkerung zu Wort kommt.

WER BLÄST ZUM AUFSTAND?

Von sinnstiftenden Lobbyvereinen bis zu anarchischen Flashmobs organisieren sich also kurzfristig Gruppen in der Bevölkerung. Diese Gruppen sind so divers wie ihre Ziele, so unüberschaubar wie ihre Zahl. Größere Gruppen bilden etwa Studenten, die anders als früher nicht für die Dritte Welt oder gegen einen Krieg streiken, sondern pragmatisch für weniger Studiengebühren, mehr Seminare und Professoren. Lokale Initiativen sprießen da, wo gegen den Willen einer artikulierten Gruppe politische oder städtebauliche Maßnahmen durchgesetzt werden sollen. So geschehen in Hamburg, als das Gymnasium abgeschafft werden sollte, oder in Stuttgart, wo derzeit Bürger, darunter prominente Schauspieler, gegen den Abriss des alten Bahnhofs und das milliardenschwere Projekt eines unterirdischen Bahnhofs protestieren. Ihre Methoden übernehmen sie von international erfolgreichen pressure groups, also Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty: Sitzblockaden, Anketten, Transparente, Unterschriftensammeln, offene Briefe. Diese Protestformen haben nicht länger den Charakter alternativen oder umstürzlerischen Handelns, sondern können sogar – siehe Gymnasium, siehe Bahnhof – das Gegenteil bezwecken, den Erhalt des Erworbenen. Damit sind sie auch Ausdruck der diagnostizierten Verunsicherung des Mittelstands. Wie, ob und wann die Politik auf die multiaktive Gesellschaft reagiert, zeigt sich bisher nur von Fall zu Fall. Sicher scheint: Das direkte Kommunizieren per Debatte oder Website wird immer wichtiger. Die Gesellschaft ist auf dem Weg zur neuen Dialogkultur, in der „Oben“ und „Unten“ flacheren Netzwerken weichen.

Sahen sich früher gesellschaftliche Gruppen weitgehend durch Bundestag und Kabinett repräsentiert, wirken die politischen Eliten heute oft realitätsfern. Das liegt auch an der größeren sozialen Beweglichkeit, die neue Lebensentwürfe und Berufsprofile hervorbringt. In dem Maß, in dem mehr individuelle Nähe und Aufmerksamkeit von der Politik erwartet wird, wirken traditionelle Politikformen – Grundsatzreden, Parteiprogramme, symbolische Auftritte – weniger adäquat. Zudem werden Vertreter der politischen Klasse als „die da oben“ erlebt, die vom Alltag kaum Vorstellungen haben. Auch statistisch lässt sich „die Bevölkerung“ kaum noch in traditionellen Kategorien erfassen.

WER ZÄHLT ZUR BEVÖLKERUNG?

Alle, die auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik leben und mit ihrer Hauptwohnung hier gemeldet sind, also auch alle hier gemeldeten Ausländer. Im dicht besiedelten Land leben laut statistischem Bundesamt rund 82 Millionen Einwohner – übrigens 216 000 (0,3 Prozent) weniger als im Jahr davor. Etwa 15, 6 Millionen besitzen einen Migrationshintergrund. Das Amt errechnet, dass es eine „Bevölkerungsdichte von 230 Personen je Quadratkilometer“ gibt – in der EU sind es im Durchschnitt 116 Menschen. Natürlich sind diese Zahl abstrakt. Außerhalb der Städte leben weniger Menschen pro Quadratkilometer als in den Ballungsräumen. Genauso abstrakt klingt die Geburtenstatistik, die etwa 2008 einen leichten Anstieg der Geburten von 1,37 auf 1,38 Kinder je Frau verzeichnet.

WIE LEBT DAS VOLK?

Seit Gründung der Republik 1949 ändern sich Lebenswirklichkeit und Lebenserwartung rapide. Vor allem: Deutschland altert. Es leben mehr Leute hier, die 65 Jahre und älter sind, als solche, die 15 und jünger sind. 18,7 Millionen Menschen sind Teil eines Ehepaares, ein wachsender Anteil bevorzugt aber auch unverheiratete Partnerschaft oder lebt in Patchworkfamilien. Die Familien selber werden immer kleiner, Haushalte mit mehr als drei Kindern sind selten. Dafür nehmen Einpersonenhaushalte in Großstädten stetig zu, 16,5 Millionen Leute leben allein, in Berlin gut die Hälfte der Einwohner. Auch die Zahl der Alleinerziehenden nimmt Jahr für Jahr zu. 2009 sorgten 1,6 Millionen Mütter oder Väter allein für ihre Kinder, fast jedes fünfte Kind wird von nur einem Elternteil betreut, meist von der Mutter. Die Mehrheit junger Leute wünscht sich aber laut Erhebungen eine Familie, der Stellenwert von Familie steigt wieder und Partnervermittler im Internet haben Konjunktur. Und: Bildung, Weiterbildung, lebenslanges Lernen sind sehr gefragt. Rund 70 Prozent der Jugendlichen erwerben die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife. Bei Migranten ist der Anteil signifikant geringer. Insgesamt bestehen etwas mehr weibliche als männliche Jugendliche das Abitur.

WIE REICH SIND DIE LEUTE IM LAND?

Statistiker messen das anhand von Wohlstandsindikatoren, der wichtigste ist das Pro-Kopf-Einkommen. Zurzeit belegen sie, dass bei relativem Wohlstand Arm und Reich weiter auseinanderdriften. Das zeigt etwa eine Studie des öffentlich finanzierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom Juni. Dieser Trend verunsichere die Mittelschicht, heißt es dort, und greife die gesellschaftliche Stabilität an. Nur noch 60 Prozent der Menschen in Deutschland gehören zur Mittelschicht mit Nettoeinkommen zwischen 860 und 1844 Euro, sechs Prozent weniger als im Jahr 2000. Die Anzahl niedriger Einkommen stieg von 18 Prozent im Jahr 2000 auf fast 22 Prozent 2009.

Auch für die Stadtentwicklung hat das Folgen, es droht die Entwicklung von immer mehr sozialen Brennpunkten. Immerhin ist die Arbeitslosigkeit trotz Wirtschaftskrise kaum gestiegen. Dennoch ist die Anzahl Jobsuchender erheblich. Im August meldete die Bundesagentur für Arbeit, dass 5 729 000 Menschen „Lohnersatzleistungen“ erhalten. Grund für Unmut bei Steuerzahlern und Politik bleibt die Tatsache, dass rund die Hälfte des Bundeshaushaltes in Transferleistungen investiert werden muss. Hier entsteht auch der Eindruck, dass wenige Fleißige in Arbeit für Millionen Nichtarbeitender Unsummen zahlen. Dass besonders „Ausländer“ zu dieser Gruppe zählen, verstärkt Ressentiments. Dazu kommt das Gefühl, an falscher Stelle – siehe Bahnhof Stuttgart – werde von leichtsinnig wirtschaftenden Funktionseliten zu viel ausgegeben. Nicht zuletzt hat die Wirtschaftskrise das Vertrauen in die Eliten erschüttert. „Wissen die eigentlich, was sie tun?“ So könnte der Kernsatz lauten für ein Lebensgefühl, das durchdrungen ist von Skepsis im Angesicht von einst verlässlichen Autoritäten.

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