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Schwieriger Ministerpräsident in einem schwierigen Land: Silvio Berlusconi

© dpa

Historiker Ginsborg: "Italien ist erfinderisch und innovativ"

Vetternwirtschaft und lähmende Strukturen: Der italienische Geschichtsprofessor Paul Ginsborg ist gebürtiger Brite. Im Tagesspiegel erklärt er, wo die Schwierigkeiten Italiens ihren Ursprung haben - und warum er trotzdem Hoffnung hat.

Herr Ginsborg, woran leidet Italien?

Es wurde 1861 geeint und hat sich 150 Jahre lang sehr schlecht entwickelt. Die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung, die Unterwerfung Aller unter Klientelismus und Vetternwirtschaft, dass man sich nicht an Institutionen, sondern immer an Personen wendet, an padroni – an diesen Grundübeln hat sich nie etwas geändert.

Also ein Modernisierungsdefizit?

Nur wenn man eine stark nordeuropäische Auffassung vom modernen Staat hat. Das Klientelwesen ist zutiefst im Mittelmeerraum verankert, da unterscheidet sich die Türkei – meine Frau stammt von dort – nicht wesentlich von Italien. Aber es modernisiert sich auch.

Wenn die lähmenden Strukturen so alt und tief verankert sind: Wie kann sich da etwas ändern? Woher kommt Ihr Optimismus?

Dieses Land ist außerordentlich erfinderisch und innovativ. Italiens Industrie wurde schon mehrmals totgesagt, als die Japaner, die Koreaner, die Chinesen kamen. Aber sie ist stark geblieben. Auch dies, ebenso wie der Sinn für Schönheit, für den Handel, neue Ideen, kommt tief aus der Kultur. Demographisch gesehen sind wir alt und dennoch sind wir weder alt noch müde. Die Italiener haben eine riesige Energie, die nur leider praktisch vollkommen für die eigene Familie verwendet wird. Es bleibt zu wenig für öffentliche Angelegenheiten. Unsere Ressourcen sind enorm, aber die Strukturen sind lähmend.

Paul Ginsborg ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Florenz.
Paul Ginsborg ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Florenz.

© Grazia Neri

Und wer sollte ein Interesse daran haben, dies zu ändern?

Die Mittelschichten. Ich bin vielleicht der Einzige, der das italienische Bürgertum nicht als reaktionär abtut und nur bereit, sich dem jeweils aktuellen Diktator anzupassen. Die Mittelklasse ist kompliziert: Da gibt es die kleinen und mittleren Unternehmer, die bisher stark an Berlusconi gebunden sind, die wenig Staat wollen und auf dem verstädterten, zersiedelten Land rings um Treviso oder im Veneto in ihren kleinen privaten Villenfestungen wohnen. Das ist ein sehr wichtiger Teil. Aber dann gibt es auch die, die ich die nachdenkliche Mittelschicht nenne, öffentlich Bedienste, Krankenschwestern, Ärztinnen, Lehrer. Sie leben vor allem in den Städten, sie sind sich der Zusammenhänge zwischen ihrem privaten Handeln und den Konsequenzen fürs große Ganze bewusst. Und sie engagieren sich immer stärker.

Und wenn’s drauf ankommt, bei Wahlen, sind sie unterlegen.

Daran ist auch ein sehr undemokratisches Wahlgesetz schuld. Aber diese Schicht wächst. Ich sehe das an meinen Studentinnen und Studenten, von denen viele die ersten ihrer Familie sind, die einen akademischen Abschluss haben. Ja, sie sind eine Minderheit. Aber sie sind die schönste Minderheit Europas – und eine, die es zum Beispiel in England, woher ich komme, nicht gibt. Wenn sie sich verbündet, kann sie sich auch in eine Mehrheit verwandeln.

Auch in eine parlamentarische? Wer verträte diese Mehrheit im Parlament?

Die PD, die früheren Kommunisten, ist mit 27 Prozent die größte Oppositionspartei, doch sie tut nichts und sie wagt nichts. Aber in einem Bündnis mit ihr, Di Pietros keineswegs linker Partei „Italien der Werte“ und der ökologischen Linken des apulischen Ministerpräsidenten Vendola ließe sich eine Mehrheit schaffen.

Solche Bündnisse sind schon früher an inneren Widersprüchen gescheitert.

Ich weiß, in den vergangenen 150 Jahren sind viele Gelegenheiten verpasst worden. Aber ich glaube, dass Italien an einem historischen Wendepunkt steht. Die Bürgerbewegung hat Siege eines Linken in Mailand und im tiefkonservativen Apulien möglich gemacht. Neapel wird seit diesem Sommer von einem Ex-Staatsanwalt regiert – die korrupteste Stadt Europas! Ich bin gern ein bisschen zweckpessimistisch, wie man auf deutsch sagt. Aber ich glaube: Wir können es schaffen.

Ihr Optimismus ist selten. Wer mit Italienern spricht, hört normalerweise nur Böses über ihr Land...

Wissen Sie was? Mit Italienern rede ich schon lange nicht mehr über Italien.

Paul Ginsborg (66), gebürtiger Brite, eingebürgerter Italiener, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Florenz. Sein Buch „Italien retten“ ist auf Deutsch bei Wagenbach erschienen.

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