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Politik: Hoffen auf die Sozialisten

Noch drei Wochen bis zur Wahl Martin E. Süskind erklärt einem bayrischen Vertrauten die Berliner Republik

Lieber P.,

jetzt, da die Politik in die Zielgerade des Wahlkampfs einbiegt, steigt die Nervosität, besonders hier in der Hauptstadt. Nach den neuesten Meinungsumfragen soll das Rennen um die Kanzlerschaft wieder offen sein. Die zweite Fernsehdebatte zwischen Schröder und Stoiber wird also ziemlich wichtig werden. Du schreibst, anders als ich hättest Du bei der Betrachtung des ersten TV-Duells den Eindruck gehabt, eher habe der Kanzler streckenweise etwas verbiestert gewirkt, der Herausforderer hingegen doch sehr selbstsicher. Im Nachhinein kann man das so sehen. Vielleicht wird es nächsten Sonntag in ARD und ZDF gerade andersherum sein – und ich irre mich wieder. Irgendwie tröstet es, dass auch die 15 Millionen Zuschauer erfrischend uneinig waren. Damit bleibt Spannung im Spiel.

Jetzt warten wir auf das berühmte Kopf-an-Kopf-Rennen. Dies ist ein Terminus, den die Wahlkämpfer ungern zu früh verwenden, weil seine Attraktivität rapide abnimmt. Normalerweise führt ihn die Partei, die hinten liegt, in letzter Minute ein, um ihren Anhängern zu signalisieren, dass es a) noch eine Chance gibt und b) jetzt alle Kräfte mobilisiert werden müssen. Die führende Partei meidet den Begriff, um a) den Kontrahenten nicht aufzuwerten und b) die Zuversicht der eigenen Anhänger nicht zu stören.

Du kannst Ouvertüren dazu derzeit in den Überschriften der Zeitungen zu den jüngsten Meinungsumfragen entdecken: „Vorsprung von Union und FDP wird knapper“ – „FDP belastet Schwarz-Gelb“ – „Die SPD im Stimmungshoch“ – „Schwarz- Gelb immer noch knapp vorn“ – „SPD holt auf, die FDP rutscht ab“. Dies analysierend, werden die Wahlkampfmanager in dieser Woche folgende Taktik einschlagen: Müntefering (SPD) wird von der Aufholjagd seiner Partei sprechen, Meyer (CDU) von der Mehrheit für Schwarz- Gelb. So richtig „Kopf an Kopf“ wird man sich dann nächste Woche befinden.

Und dann wird wahrscheinlich auch die „Schicksalswahl“ um Deutschland beschworen werden. Kandidat Stoiber machte dazu bereits eine wichtige Vorbemerkung: Zwar nehme die SPD „an Stimmungslage zu“, doch gehe dies sehr stark auf Kosten der PDS – „auch eine interessante Konstellation“. Damit wollte er seine Wähler beruhigend darauf hinweisen, dass der Zuwachs für die Sozialdemokraten nicht der Union schade, sondern ein Austausch von Stimmen im linken Lager stattfinde – mit dem von ihm ersehnten Effekt, dass die PDS nicht wieder in den Bundestag einzieht, ergo für Union und FDP bereits 47 Prozent zur Regierungsbildung reichen. In Berlin kämpft die PDS deshalb verzweifelt um ihr möglicherweise wahlentscheidendes drittes Direktmandat. Wahrscheinlich würde die SPD hier am liebsten eine Erststimmen-Kampagne für die PDS organisieren, wenn das nicht politisch so schrecklich unkorrekt wäre.

Kanzler Schröder (SPD), schreibst Du, habe derweil den Primat der Außenpolitik entdeckt. Tatsächlich erntet er am meisten Zustimmung mit seiner Aussage, Deutschland werde sich unter seiner Führung an einem Krieg der USA gegen den Irak nicht beteiligen. Offenbar trifft er damit das Gefühl so vieler Menschen, dass urplötzlich auch Stoiber die Meinung seines Kanzlers übernommen hat. Nun werden die Emotionen der Solidarität mit Amerika wieder stark bewegt werden, denn es naht der 11. September. Ob dann Stoiber nochmals seine Meinung ändert? Wir werden sehen.

An der Demoskopie-Front hat Allensbach, wie zu erwarten war, seine exorbitant hohen Zahlen für die FDP nach unten korrigiert; am Bodensee sah man die Liberalen vergangene Woche bei 11,6 Prozent – das sind immer noch mehr als drei Punkte über dem Durchschnitt der anderen Institute. Da aber die Fehlermarge der Prognosen über die kleineren Parteien bei ungefähr plus/minus 1,7 Prozent liegt, können immer noch alle Recht bekommen, die Pessimisten und die Optimisten. Am Wahltag in drei Wochen werden sie allemal zu Realisten.

Übrigens: „Zeit für Taten“, wessen Slogan ist das? Ich warte auf Antwort.

Dein M.

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