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Politik: Hoffnung auf den Kick

Von Thomas Seibert, Istanbul Die 15-jährige Istanbulerin Eylül Görmüs erlebt zurzeit ein ganz neues Gefühl: Sie ist stolz auf ihr Land. Dieser Stolz sei ihr aber nicht etwa von der Generation ihrer Eltern vermittelt worden, sondern von elf Fußballern im fernen Japan, schrieb Eylül an die Zeitung „Hürriyet“, die den Brief des Mädchens am Dienstag abdruckte.

Von Thomas Seibert, Istanbul

Die 15-jährige Istanbulerin Eylül Görmüs erlebt zurzeit ein ganz neues Gefühl: Sie ist stolz auf ihr Land. Dieser Stolz sei ihr aber nicht etwa von der Generation ihrer Eltern vermittelt worden, sondern von elf Fußballern im fernen Japan, schrieb Eylül an die Zeitung „Hürriyet“, die den Brief des Mädchens am Dienstag abdruckte. „Auf was sollten wir denn stolz sein? Auf die täglich wachsende Inflation, auf die Armut, auf die Korruption?“, fragte der Teenager. Doch nach dem Einzug der türkischen Fußball-Nationalmannschaft ins WM-Halbfinale am vergangenen Wochenende rief Eylül zusammen mit hunderttausend anderen Türken in Istanbul den Schlachtruf: „En büyük Türkiye – Die Türkei ist das Größte."

So wie Eylül Görmüs geht es vielen Türken. Jahrelang waren sie es gewohnt, dass ihr Land vom Ausland bestenfalls belächelt, meistens aber misstrauisch bis feindselig betrachtet wurde. Kurdenkonflikt, Menschenrechtsverletzungen, Wirtschaftskrise, Regierungskrise – nur der Ruf als billiges Urlaubsland schlug halbwegs positiv zu Buche. Doch plötzlich spricht die Welt anerkennend vom Können der türkischen Fußballer, die es in Japan bereits unter die vier besten Mannschaften der Welt gebracht haben und am nächsten Sonntag sogar im WM-Finale stehen könnten. In ihrer überschäumenden Freude habe sie sofort „etwas für die Türkei tun wollen“, schreibt Eylül in ihrem Brief an „Hürriyet".

Dieser Tatendrang und Wunsch nach Veränderung ist plötzlich überall zu spüren. Nationaltrainer Senol Günes sprach es offen aus: „Der historische Erfolg wird auch politische und soziale Veränderungen bringen.“ Selbst die staatstragende „Hürriyet“ hat sich dem neuen Trend angeschlossen: „Nun ist der Staat dran“, titelte sie. Ähnlich wie nach dem schweren Erdbeben von 1999, als der bis dahin von einem unausgesprochenen Kritik-Verbot geschützte Staatsapparat bei den Hilfsbemühungen komplett versagte, werden von Ankara tief greifende Veränderungen verlangt. Das betrifft in erster Linie die türkische EU-Kandidatur.

In Ankara ist vom brennenden Wunsch nach Veränderung jedoch nur wenig zu spüren. Das Parlament geht diese Woche in seine dreimonatigen Sommerferien, ohne dass es eine Einigung auf wichtige EU-Reformen wie die vollständige Abschaffung der Todesstrafe gibt. Der kranke Ministerpräsident Bülent Ecevit (77) klammert sich nach wie vor an seinen Posten, die Regierungsarbeit ist deshalb seit fast zwei Monaten gelähmt.

Ob der gesellschaftliche Schwung durch die türkischen Fußball-Erfolge ausreicht, um einen politischen Befreiungsschlag in Ankara zu ermöglichen, ist aber noch längst nicht sicher. „Hürriyet"-Kommentator Fatih Altayli warnt seine Landsleute jedenfalls davor, zu viele Parallelen zwischen dem Fußballfeld und der Politik zu ziehen. So werde ein erfolgloser Fußballer vom Trainer aus dem Spiel genommen, aber: „In der türkischen Politik werden erfolglose Akteure nicht automatisch ausgewechselt."

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