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Holocaust-Gedenktag: Um das Überleben gespielt

Er sollte dem Lagerführer Akkordeon beibringen. „Wenn ich es in einer Woche kann, wirst du leben“, sagte der zu ihm, sonst werde er sterben, wie noch kein Jude im Lager gestorben sei. Wie die Musik Leopold Kozlowski vorm Holocaust rettete.

„Es war in einem Kulturhaus in Ostdeutschland. Ich habe gesagt, ich will Musik hören. Am nächsten Tag kam ich wieder. Der Hausmeister zeigte mir einen Platz im Saal. „Hier saß mal Hitler“, sagte er mir. Und ich habe mich dort gesetzt. Ich, Jude. Das Orchester spielte. Und ich rief am Ende: „Papa, dein Traum ist wahr geworden. Sie spielen für uns.“

Die Stimme von Leopold Kozlowski bricht immer noch zusammen, wenn er sich an das Geschehen von vor fast 70 Jahren erinnert. Schnell wischt er die Tränen ab, die über die Wange fließen und am prächtigen weißen Schnurrbart hängen bleiben.

Sein Vater konnte nicht sehen, wie die Deutschen für einen Juden spielten. Auch sein Bruder und seine Mutter nicht. Denn die ganze Familie Kleinman- Kozlowski ist gestorben im Holocaust, sie gehörte mit zu jenen, derer am heutigen Freitag gedacht wird.

Dass Leopold überlebte, liegt an seiner Musik. Die hat ihn gerettet.

Leopold Kleinman-Kozlowski, heute 93 Jahre alt, klein und rundlich, ist Klezmer. Ein traditioneller jüdischer Musiker. Der letzte Galiziens. Außer ihm sonst spielt niemand nach der alten Tradition, in der Klezmorim jahrhundertelang gespielt hatten. Das heißt: Eigentlich spielt ein Klezmer nicht. Das betont Kozlowski immer wieder. „Wissen Sie, woher das Wort Klezmer stammt? Von zwei anderen Wörtern: Musikinstrument und Beten. Denn ein echter Klezmer betet mit seiner Geige oder Klarinette, er spricht mit Gott. So ist es richtig.“

Kozlowski läuft schnell durch den Warschauer Konzertsaal, klettert hoch auf die Bühne. Die Absätze seiner eleganten, lackierten Halbschuhe klopfen rhythmisch auf dem Parkett. Er zieht die Hosenträger hoch. Schiebt mit der Hand seinen Haarkranz auf dem Hinterkopf zurecht und setzt sich ans Klavier. Als er dann spielt, guckt er in die Ferne.

Er singt und spielt noch regelmäßig. Gleich steht eine Probe an mit Schülerinnen. Es sind vor allem Frauen, die bei ihm lernen wollen, wie man die traditionelle Musik singt. Dabei sagt Kozlowski: „Lernen kann man sie nicht. Aber nach 15 Jahren Unterricht kann man die Musik schon spüren.“

Seine tiefe Stimme wird lauter. „Memento Moritz“ heißt das Lied, das er singt. Es erzählt von einem jüdischen Schuhmacher aus Krakau, der Schuhe, die er gemacht hat, am Aufschlagen der Absätze erkennen konnte. Es hat ihn glücklich gemacht. Eines Tages hörte er auf der Treppe Schritte, die er nicht kannte. Das waren nicht seine Schuhe. Es waren die Schuhe seiner Mörder.

Das ist genau das, sagt Kozlowski, was der Klezmer nach dem Krieg machen musste. „Die Geschichte seines Volkes erzählen. Damit man sie nie vergisst. Auch meine Mutter und mein Vater dürfen nie vergessen werden.“ Kozlowski wurde musikalischer Berater in US-amerikanischen Filmen über Krieg und Holocaust, spielte in „Schindlers Liste“ eine kleine Rolle, wanderte von Konzert zu Konzert durch Europa.

Es ist ein bisschen, als hätte er keine Wahl gehabt. Das Leben seiner Familie war seit Generationen von Musik bestimmt. Sein Großvater spielte vor Kaiser Franz Josef, sein Vater, Cwij Kleinman, für das polnische Staatsoberhaupt Jozef Pilsudski. Sein Onkel, Naftali Bradtwein, emigrierte vor dem Krieg in die USA – wo er zum König der jüdischen Musik gekrönt wurde. Musik war die einzige Welt, die der 1918 geborene Leopold kannte. Er schließt ein Konservatorium ab, will mit seinem Vater in einem Ensemble spielen, der jüngere Bruder, Adolf, soll sie begleiten. Dann kommt der Krieg.

Als die Deutschen 1941 in Przemyslany, einer Kleinstadt nahe Lemberg, einmarschierten, hieß es, sie suchten nur Männer, keine Frauen, also floh Leopold mit dem Vater, dem jüngeren Bruder Adolf und einer Geige nach Osten, fast bis Kiew. Dort fanden sie ein Versteck auf einem Dorffriedhof, aber sie hielten es nicht lange aus – und beschlossen das Wagnis Heimweg, auf dem die Musik zum ersten Mal Leopolds Leben rettete.

Sie trafen auf deutsche Soldaten, die in ihnen sofort flüchtige Juden erkannten. „Sie stellten uns an einen Straßengraben, und zielten auf uns mit Gewehren.“ Da fragte der Vater, ob sie vor dem Tod noch etwas spielen dürfen, sie hätten eine Geige dabei. Warum nicht, ein paar Minuten Leben können die Soldaten diesen drei halb verhungerten Juden noch schenken. Sie spielen einen Tango, „Dieser letzte Sonntag“, ein in Polen beliebtes Stück. Die Soldaten hören zu. Und dann passierte ein Wunder. „Die Gewehre senkten sich, ,ab’, haben sie uns gesagt, und dann gingen sie weiter. Wir haben überlebt.“ Sein Vater sagte danach zu ihm: „Ach, wenn sie einmal auch für uns spielen würden.“ Diese Worte seines Vaters Cwij Kleinman hat sich Leopold gut gemerkt.

Die Aufseher haben ihn gequält wie die anderen Gefangenen auch, aber sie sorgen dafür, dass er nicht stirbt.

Als Leopold, der Bruder und der Vater noch im Jahr 1941 nach Przemyslany zurückkommen, geraten sie mitten rein in die Säuberungsaktionen der Nationalsozialisten. Die Stadt soll „judenfrei“ werden. Den Vater erschießen sie zusammen mit anderen Juden aus der Stadt in einer Massenexekution. Die Söhne Leopold und Adolf landen mit ihrer Mutter in einem Arbeitslager in Kurowice. Er spielt in den Lagerorchestern. Bei der Arbeit, bei Exekutionen. Er schenkt den Mitgefangenen einen Hauch ihrer Heimat.

„Ich habe gespielt, um sie zu trösten, ihnen Mut zu geben, um den nächsten Tag zu verkraften.“ Er spielt jüdische Musik. „Meine jiddische Mama“ oder „Das Städtchen Belz“ oder „Rozhinken mit Mandeln“. Lieder, mit denen sie in Polen aufgewachsen sind. Er habe sie so gespielt, dass die Lieder auch den Deutschen gefielen. „So, dass sie geklatscht haben, sich gefreut haben“, sagt er. „Keiner hat mitbekommen, dass es diese verachtete jüdische Musik war. So gut kannten sie das, was sie gehasst haben.“

SS-Männer hörten gerne zu, wenn dieser junge polnische Jude spielte. Kozlowski sollte sie unterhalten. Er merkte es schnell: Musik ist die einzige Chance für ihn und seine Familie. Er wollte leben. Um jeden Preis.

Eines Tages kommt die Lagerleitung auf ihn zu. Der Lagerführer will Akkordeon lernen. Er will „An der schönen, blauen Donau“ spielen. Leopold soll ihm das beibringen. Und zwar innerhalb einer Woche. „Wenn ich es dann kann, wirst du leben“, sagt der Lagerführer, „wenn nicht, stirbst du so, wie noch niemand im Lager gestorben ist.“

Der Lagerführer stellt sich als völlig unmusikalisch heraus. Doch zu Leopolds Glück gilt das offenbar auch für die anderen SS-Männer. Als jedenfalls der Lagerführer nach einer Woche zum Akkordeon greift, um seinen betrunkenen Kollegen das Donaulied vorzuspielen, klatschen die begeistert.

Kozlowski erhält einen Fußtritt – und seinen Passierschein ins Leben. Solange die Peiniger nicht gelangweilt sind, hat Leopold nun eine Chance. Er spielt bei den derben Festen der Lagerleitung, manchmal der Ohnmacht nahe, wenn er, der Hungernde, die Speisen sieht, die Gerüche riecht. „Sie bewarfen mich mit Essensresten, übergossen mich mit Mayonnaise“, und er spielte und lässt die Essensreste an seinem Körper trocknen, um sie später abzukratzen und zu essen.

Die Aufseher und Wärter im Lager haben ihn gequält wie die anderen Gefangenen auch, aber sie sorgen dafür, dass er nicht stirbt. Sie wissen, dass der Lagerführer den Musiker schützt.

Als Leopold durch Zufall erfährt, dass das Arbeitslager aufgelöst werden soll, flüchtet er mit seinem Bruder. Seine Mutter schafft es nicht. Sie wird erschossen. Kozlowski schließt sich den Partisanen aus der Untergrundarmee an. Die einzige jüdische Einheit der Untergrundarmee in ganz Polen. Die Musik schützt ihn auch jetzt. Kozlowski hat sein Akkordeon mit auf die Flucht genommen, und von dem trennt er sich nicht mehr. Auch nicht während des Kampfes. Als er angeschossen wird, bleibt die Kugel im Musikinstrument stecken. „Ich habe mein Akkordeon nie verraten. Wie könnte ich es jemals tun?“ Bis heute hat er es in seiner Wohnung im Regal stehen. Und einmal pro Woche spielt er noch darauf.

In der Zeit bei den Partisanen verliert Leopold Kozlowski seinen letzten nahen Verwandten. Der Bruder wird krank, bleibt im Dorf, in dem die Partisanen sich niedergelassen haben, während die anderen zum Kampf ausrücken. Dann wird das Dorf von der Organisation Ukrainische Nationalisten um Stephan Bandera überfallen, die auf die Seite der Deutschen gewechselt waren. Sie wissen, dass die Bewohner Juden verstecken. Adolf wird gefangen genommen, sein Kopf mit einer Axt abgehackt.

So sind die Leichen von Leopold Kozlowskis Familie überall verstreut. Gräber gibt es nicht. Der Vater liegt in einem Massengrab, mit Dutzenden anderen erschossenen Juden. Die Mutter irgendwo im ehemaligen Lager. Der Bruder in der Nähe des Dorfes, wo ihn die Bewohner im Schatten eines Baumes verscharrten und dessen Rinde markierten.

Leopold Kozlowski, nunmehr ohne Mutter, ohne Vater und auch ohne Bruder ganz allein, schließt sich später der polnischen Armee an, geht mit der bis nach Berlin. Er erzählt: „Nach vier Jahren, als ich mit der Armee in Deutschland war, sah ich in einer kleinen Stadt ein Kulturhaus. Ich trat ein. Nur ein Hausmeister war da, alle Musiker hatten sich versteckt. Leopold aber wollte, dass die Musiker was spielten. Der Hausmeister sagte, er solle am nächsten Tag kommen und Essen mitbringen. Am nächsten Tag brachte Kozlowski Essenspäckchen aus dem Armeelager mit, und die deutschen Musiker spielten für ihn. „Damals in Ostdeutschland habe ich den Traum von Papa verwirklicht. Ich war stolz. Er konnte es nur nicht mehr sehen.“

Als der Krieg zu Ende ist, muss Leopold Kozlowski sich ein neues Zuhause suchen. Seine Heimatstadt Przemyslany liegt nun in der UdSSR. Er hört von Kazimierz, einem jüdischen Viertel in Krakau. Er fährt hin, aber findet nur leere Häuser. Fast alle Juden aus Krakau sind im Holocaust ums Leben gekommen. „So leer war es, so leise“, sagt Kozlowski. „Ich setzte mich auf die Straße und fing an zu weinen.“ Und er blieb.

Erst Jahre nach Ende des Kriegs wird Leopold Kleinman-Kozlowski von der Sowjetunion die Genehmigung erteilt, nach Spuren seiner ermordeten Familie zu suchen. Die Baumrinde ist da längst zugewachsen, das mit einem Messer eingeschnitzte Zeichen verschwunden. Leopold wählt einen anderen Baum als symbolisches Grab. Seit Jahren kommt er hierher und zündet eine Kerze an. „Hier ruhen sie, meine Mutter und mein Bruder.“ So haben sie auch noch eine Heimat bekommen.

Leopold Kozlowski durfte in Polen wieder Musiker sein. Ein Klezmer. „In Polen gab es uns nicht mehr. In ganz Europa nicht. Nur in Amerika gab es uns noch. Die, die noch vor dem Krieg ausgewandert sind.“ Jahrelang bemüht sich Kozlowski, die alte Tradition wiederzubeleben, und er hat Erfolg. Das jüdische Festival von Kazimierz wird weltbekannt, lockt Besucher aus der ganzen Welt an.

Die Musik, die ihn gerettet hat, nun rettet er sie. „Wer sonst, wenn nicht ich?“, fragt er, „ich war ihr das schuldig.“ Und so spielte er immer weiter, sein Leben lang. Und wie man es richtig macht? „Die Noten muss man von sich fernhalten. Und das Instrument dicht am Herzen. Das macht die Klezmer-Musik aus.“

Agnieszka Hreczuk

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