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Politik: Hurra, wir leben noch

DIE GESUNDHEITSREFORM

Von Cordula Eubel

Nach 100 Tagen Gesundheitsreform ist die Welt noch nicht untergegangen. Die Patienten können sich ihren Arzt noch leisten und werden medizinisch versorgt, wenn sie es nötig haben. Die deutsche Pharmaindustrie ist in den ersten drei Monaten des Jahres nicht nach Osteuropa ausgewandert, und auch das große Apothekensterben ist ausgeblieben. Selbstverständlichkeiten? Vor hundert Tagen keineswegs. In den ersten Wochen der Gesundheitsreform entstand der Eindruck, dass die Einschnitte die Menschen furchtbar treffen. Täglich sorgten neue Einzelfälle für Empörung.

Skandalträchtige Schlagzeilen über unversorgte Notfall-Patienten oder das Informationschaos in deutschen Arztpraxen sind selten geworden. Viele Patienten zahlen die zehn Euro beim Arztbesuch bereitwillig. Das Vertrauensverhältnis zum Doktor ist nicht erschüttert worden. Ernsthafte Probleme, so berichten die Standesvertreter der Kassenärzte, seien Einzelfälle geblieben. Nach drei Monaten scheinen sich alle an die Gesundheitsreform gewöhnt zu haben.

Sachlich ist das wenig erstaunlich. Denn diese Gesundheitsreform ist weder der komplette soziale Kahlschlag, noch hat sie das verkrustete deutsche Gesundheitssystem komplett auf den Kopf gestellt.

Und dennoch überrascht die heutige Gelassenheit. In der Bevölkerung hat – man darf es so optimistisch formulieren – ein Mentalitätswandel eingesetzt. Die Bürger haben in den vergangenen Monaten die praktische Erfahrung gemacht, dass sie für ihre Krankenkassenbeiträge und die gestiegenen Zuzahlungen auch weiter eine medizinisch umfassende Versorgung erhalten. Das ist mehr wert, als alle Prognosen und Mutmaßungen im Vorfeld der Reform.

Die Folge: Viele Patienten überlegen sich seit Einführung der Praxisgebühr, ob der Gang zum Arzt wirklich notwendig ist. Darauf deuten zumindest die ersten Statistiken hin. Bleibt zu hoffen, dass dieser Effekt von Dauer sein wird – und die Besuche beim Doktor nicht wieder stark ansteigen, wenn die Praxisgebühr endgültig zur Gewohnheit geworden ist.

Wenn nach drei Monaten so wenig Wut und Enttäuschung übrig geblieben sind, ist die Frage nach den Gründen für die Aufregung der ersten Wochen erst recht lehrreich: Offenbar fühlten sich die Versicherten über die Neuregelungen der Gesundheitsreform schlecht informiert – mehr noch, als dass sie sich ungerecht behandelt fühlten. Die Folge war eine große Verunsicherung: Die Diabetikerin wusste nicht, ob sie als chronisch krank eingestuft wird und weniger zuzahlen muss. Tausende von Menschen richteten Briefe an die Patientenbeauftragte, die Telefone bei der Hotline des Gesundheitsministeriums liefen heiß.

Zudem neigten Lobbyisten, aber auch die Medien dazu, das denkbar düsterste Szenario zu skizzieren, das für den Ausnahmefall. Der Aufschrei ist in Deutschland immer besonders groß, wenn nicht jeder Einzelfall mit einer gerechten und individuellen Ausnahmeregelung bedacht wird.

Nicht zuletzt hat die Politik mit ihrer Neigung zu unrealistischen Versprechungen die Aufregung gesteigert. Den 70 Millionen Versicherten enorme Beitragssenkungen für 2004 anzukündigen, hat zu Erwartungen geführt, die nur enttäuscht werden konnten. Für Realisten ist es ein Erfolg, wenn die Kassenbeiträge in diesem Jahr nicht steigen, sondern leicht sinken. Das wusste die Politik; sie kannte den hohen Schuldenstand der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gut.

Die Gesundheitsreform verdient zuallererst Augenmaß. Etwas Bewegung ist in ein System gekommen, das als nahezu unreformierbar galt – vielleicht sogar mehr als in den vergangenen Jahren, wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt stolz verkündet. Die Ruhe, die bei den Akteuren eingekehrt ist, hat aber auch eine Kehrseite: Sie verrät, dass noch längst nicht jeder Euro im Gesundheitswesen effizient eingesetzt wird. Regierung und Opposition hätten sich zu erheblich mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen durchringen müssen. Erst wenn das geschieht, macht es Sinn, neues Geld ins Gesundheitssystem zu schaufeln – sei es über die Bürgerversicherung oder die Kopfpauschale.

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