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Politik: „Ich habe immer Hoffnung“

Bilanz einer Amtszeit: Bundespräsident Johannes Rau über Toleranz, Alterszorn und seine schwierigste Entscheidung

Herr Bundespräsident, Abschied aus einem wichtigen Amt zu nehmen: Nach 50 Jahren in der Politik kennen Sie das. Ist es diesmal anders?

Es ist schon ein bisschen anders, weil es diesmal eben kein Wechsel in eine andere Funktion ist, sondern das Ende einer langen politischen Karriere. Das fühlt sich anders an.

Wie?

Es gibt ja die schöne Formulierung von der nachberuflichen Lebensphase. Man weiß nie, wie lange die währen wird. Also gibt es eine Mischung aus Vorfreude, Unsicherheit und Neugier. Und diese Mischung ändert sich jeden Tag ein bisschen. Nur die Vorfreude, die bleibt eigentlich recht konstant.

Den Eintritt in eine nachberufliche Phase nehmen wir Ihnen, mit Verlaub, nicht ab. Sie haben doch bestimmt Berge von Bitten vorliegen, was Sie jetzt alles tun sollten!

Das ist richtig. Die Zahl der Anfragen liegt in der Nähe des Vierstelligen. Aber ich habe mir selbst versprochen, dass ich während der Amtszeit keine Entscheidungen treffe. Ich möchte ein wenig Distanz – auch zu den reizvollen und faszinierenden Anfragen. Würde ich da zu schnell ja sagen zu dem einen oder anderen Vorhaben, würde ich mich ja in eine neue Gefangenschaft begeben. Und das will ich nicht.

Sie wollen endlich Selbst- statt Fremdbestimmung?

Eindeutig ja. Nur weiß ich nicht, ob ich das kann. Denn fast 50 Jahre lang habe ich nicht erlebt, dass ich selbst entscheiden kann, wann ich aufstehe, wann ich lese, wann ich arbeite. Seit 1953 habe ich berufliche Verpflichtungen gehabt, die stets weit über das Maß einer 40-Stunden-Woche hinausgingen. Da ist man ganz darauf angewiesen, dass es Menschen gibt, die hilfreich über einen verfügen. Genau die wird es bald nicht mehr geben. Ob ich dann die richtige Mischung aus Fantasie und Disziplin zustande bringe, ob ich mich dann nicht einfach wie eine Qualle an den Strand lege, das weiß ich eben nicht. Das muss man ja trainieren, nehme ich an.

Quallen telefonieren nicht. Sie greifen gern zum Hörer. Das hört auf?

Gewiss nicht.

Die vergangenen fünf Jahre als Bundespräsident: Haben die Ihnen etwas Neues gezeigt?

Es kam jedenfalls keine Offenbarungstheologie über mich: Ach – diese Dimension habe ich ja überhaupt nicht gekannt!

Bundespräsident funktioniert wie nordrhein-westfälischer Ministerpräsident?

Wie eine Mischung aus Oberbürgermeister alten Typs und Ministerpräsident. Ministerpräsidenten entscheiden andauernd über konkrete Sachverhalte. Bundespräsidenten sind in politische Entscheidungen üblicherweise nicht eingebunden. Das macht zuerst unbeholfen, weil man denkt: Du musst doch mal was entscheiden! Es führt dann dazu, dass man denkt, man müsse die Entscheidungen anderer ständig kommentieren. Aber irgendwann, nach einer ganzen Reihe von Monaten, lässt man das.

Zuweilen muss das Staatsoberhaupt politisch entscheiden. Die Unterschrift unter das Zuwanderungsgesetz nach dem Bundesrats-Eklat vom März 2002: War das Ihre schwierigste Entscheidung?

Eindeutig ja.

Der heutige Gesetzentwurf ist gut?

Zufrieden sein kann man nicht. Aber man kann dankbar sein, dass wir endlich wenigstens so weit gekommen sind. Jetzt wird man auf dieser Grundlage sehen, wo noch zusätzliche Aufgaben auf uns zukommen. Es ist jedenfalls richtig, dass wir endlich ein Zuwanderungsgesetz haben, auch wenn man sich sowohl für die Einheimischen als auch für die Zuwanderer mehr wünschen darf.

Im Hauptberuf eines Bundespräsidenten, dem des öffentlichen Redners: Was war da die wichtigste Stellungnahme?

Das lässt sich nicht im Superlativ ausdrücken. Besonders wichtig waren wohl die Berliner Reden und die Ansprachen vor den Parlamenten in Israel und in Polen. Besonders schwierig war sicher die Rede nach dem Amoklauf von Erfurt. Dieses schreckliche Attentat im Gymnasium – das hat für schlaflose Nächte gesorgt.

Haben Ihre Reden gewirkt?

Mir liegen weder Understatement noch Selbstbelobigung.

Sie haben Ihre Rede vor der Knesset erwähnt. Haben Deutschland-Beobachter in Israel und den USA Recht, die vor einem neuen Antisemitismus warnen?

Nach meinem Eindruck findet der Antisemitismus in Deutschland kaum Resonanz. Aber natürlich macht mir jeder Vorfall mit antisemitischem Hintergrund Sorgen. Auch in der öffentlichen Debatte gibt es Tendenzen, die mir nicht gefallen. Manche benutzen Israels Regierungspolitik als Vehikel für antisemitische Äußerungen. Und andere sind befangen in der Kritik an der israelischen Regierung, damit sie nicht in den Verdacht des Antisemitismus geraten.

Ist Antisemitismus in Europa auch eine durch Zuwanderung importierte Haltung?

Auch – aber nicht zuerst. Natürlich gibt es islamistische Ansätze, die bis an deutsche Stammtische dringen. Aber das halte ich für beherrschbar. Aufgrund unserer Geschichte müssen wir das Volk sein, das am ehesten weiß, wie gefährlich es ist, wenn Vorurteile die Politik ruinieren. Wir haben es ja alles erlebt. Deshalb brauchen wir die höchste Sensibilität – und die niedrigste Toleranz gegenüber der Intoleranz.

In Ihrer letzten Berliner Rede haben Sie die Gier der Eliten gegeißelt …

… von Teilen der Elite!

Hat die Elite sich beschwert?

Manche hatten sich schon vorher bitter beklagt, weil ich etwas über Vorstandsgehälter gesagt habe. Nach der Rede ist mir mehr Zustimmung signalisiert worden. Nur die Breite der Thematik, die ist nicht von allen erfasst worden. Zuallererst wollte ich die Bürger ermutigen, sich einzumischen und Verantwortung zu übernehmen. Wenn man das glaubwürdig tun will, muss man natürlich auch die Defizite der Eliten deutlich ansprechen. Ich habe hernach nur gehört, ich hätte Kritik an den Politikern geübt. Das war aber nicht so.

„Bruder Johannes“ schätzt Altersmilde höher ein als Altersgram?

Vielleicht Alterszorn? Sehen Sie: Es gehört zu diesen fünf Jahrzehnten, dass Sie mit bestimmten Klischees leben müssen. Bis zum 51. Lebensjahr war ich der begehrteste Junggeselle Nordrhein-Westfalens. Dann kam der bibelfeste, Pils trinkende, Skat spielende Anekdotenerzähler. Tja. Da können Sie nur sagen: Das nehme ich alles hin, ich kenne mich selbst besser.

Sie wollten sich nie ändern, nur um den Klischees nicht mehr zu entsprechen?

Nein, das kann ich nicht, das will ich auch nicht. „Ich will mich nicht verbiegen lassen“: Diesen Satz habe ich immer sehr ernst genommen.

Ein Satz, den Ihr Nachfolger Horst Köhler ebenso häufig benutzt! Welche Ratschläge haben Sie ihm gegeben?

Keine öffentlichen Ratschläge zu erteilen! Ich habe ihm natürlich von meinen Erfahrungen berichtet – und eine kann ich auch öffentlich wiedergeben: Als ich das Amt übernahm, habe ich geglaubt, der Bundespräsident sei allein Herr seiner Termine. Das ist ein Irrtum. Es gibt so vielfältige Verpflichtungen, dass die Freiräume winzig klein werden.

Was treibt die Deutschen um, wenn Sie sich an ihren Bürgerpräsidenten wenden?

Das wechselt. Vielen Briefeschreibern ist aber gemeinsam, dass sie diesen Staat und seine Funktionen nicht verstehen. Es ist unendlich schwierig, zwischen Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europapolitik zu unterscheiden, und da wird der Bundespräsident leicht zum Allzuständigen. Der wird dann gebeten, die Rente zu erhöhen und den Führerschein zurückzugeben. Gustav Heinemann lag schon richtig, als er von der Bundesklagemauer sprach. Manchmal ist es die schiere Hilflosigkeit, die aus solchen Briefen spricht. Es dürfte fast die Mehrheit der Fälle sein, wo ich gern beistehen würde, es aber nicht kann. Wenn Großeltern wegen eines familiären Konflikts ihre Enkel nicht mehr sehen können – oder im Asylbereich, wenn es etwa um Abschiebungen geht: Da kann ich einen Mitarbeiter bitten, mit den Betroffenen zu sprechen, oder ich kann eine Behörde bitten, mich über den Fortgang eines Verfahrens zu informieren. Wenn es Ermessensspielräume gibt, bewegt man manchmal etwas.

Wie hat sich Deutschland in Ihrer Amtszeit verändert?

Es ist weniger Zuversicht da. Daran mangelt es immer mehr.

Sie selbst konnten keinen Optimismus verbreiten?

Ich spreche von Zuversicht, nicht von Optimismus. Nein, dass dies an meiner Rolle lag, glaube ich nicht.

Haben Sie Fehler gemacht?

Ja.

Verraten Sie uns einen?

Das zu tun, wäre ein Fehler.

Werden Sie sich wieder verstärkt in ihrer krisengeschüttelten SPD einbringen?

Ich werde weder meine Wurzeln verleugnen noch unkenntlich machen, auf welchem Fundament ich politisch stehe. Aber ich will nicht nachträglich die Überparteilichkeit des Bundespräsidenten einfach aufgeben, weil ich sonst die Glaubwürdigkeit dieser fünf Jahre einschränken würde. Deshalb gibt es kein Zurück in eine parteipolitische Funktion.

Sie telefonieren …

… ja …

… auch mit Oskar Lafontaine …

… Wir haben lockeren Kontakt. Nur hat das nichts mit Politik zu tun, sondern viel mit dem Attentat damals in Köln. Die Frau, die ihn töten wollte, hat danach gesagt, sie habe eigentlich mich umbringen wollen – ich hätte nur so ungünstig gestanden. Ein solches Erlebnis schweißt zusammen.

… und Sie leiden mit der SPD?

Das darf ich ja als Bundespräsident nicht!

Aber von Juli an, als Johannes Rau?

Ich habe mal gesagt: Keine Partei ist vor mir sicher.

Hat der Fußballfan Rau nach dem Ausscheiden der Deutschen in Portugal noch Hoffnung für unsere Nationalmannschaft?

Ich habe immer Hoffnung – auch für unsere Nationalmannschaft. Wir haben jetzt die Chance für einen echten Neuanfang mit vielen jungen Spielern. Und dann wird es spätestens bei der Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land auch wieder rund laufen!

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Ingrid Müller und Robert von Rimscha. Das Foto machte Mike Wolff.

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