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Politik: "Ich vermisse nichts ohne Kind" *** "Das ist Ich-Verkrampfung"

Die Roman-Autorin Harriet Köhler und Ex-Arbeitsminister Blüm diskutieren über eine Gesellschaft ohne Nachwuchs, unsichere Renten und die neuen Alten

Frau Köhler, Herr Blüm, es gibt immer weniger feste Jobs, dafür steigen die Rentenbeiträge, und die spätere Gegenleistung dafür scheint unsicher. Verstehen Sie, dass junge Leute das Gefühl haben, sie würden von der Generation ihrer Eltern betrogen?

BLÜM: Da wollen wir mal die Kirche im Dorf lassen. Erstens: Meine Eltern haben zur Rentenversicherung zehn Prozent Beitrag gezahlt. Ihre Enkel zahlen fast 20 Prozent. Aber das verfügbare Einkommen meiner Eltern war wesentlich geringer als das ihrer Enkel. Zweitens: Mich stört, dass pausenlos verlangt wird, anzugeben, wie hoch die Rente eines 20-Jährigen ist, wenn er 70 ist. Siemens kann den Kurs der Aktie nicht für das nächste halbe Jahr voraussagen. Da soll jemand die Höhe der Rente in 50 Jahren kennen? Als ich 20 war, hat mich gar nicht interessiert, wie hoch meine Rente sein wird. Diese Übervorsicht einer Generation, die sich doch so kreativ und frei geriert, ist mir völlig fremd.

KÖHLER: Aber das war doch eine ganz andere Zeit, als Sie jung waren. Da konnte man einfach davon ausgehen, wenn man sich anstrengt, dann wird das was. Kein Wunder, dass Sie mit dieser Sicherheit nicht an die Rente gedacht haben. Aber heute ist eben nichts mehr selbstverständlich. Es wird uns pausenlos gesagt, dass wir uns kümmern müssen. Ich bin nicht in einem Anstellungsverhältnis und muss meine Altersvorsorge selbst organisieren. Da muss ich schon schauen, was am Ende rauskommt.

BLÜM: Ich verstehe , dass es in dieser globalisierten Wirtschaft große Verunsicherung gibt. Aber hinter der Panikmache um die Rente stehen handfeste Interessen der privaten Versicherungen, die das Geld der Sparer in ihre Kassen lenken wollen. Das staatliche Rentensystem ist immer noch das sicherste, weil es auf dem Generationenvertrag aufbaut: Die Jungen sorgen für die Alten. Das ist zwar ein Prinzip, das schon im Neandertal galt, es hält trotzdem immer. Außerdem: Gab es schon mal eine Rente, die nicht bezahlt wurde? Seit 120 Jahren hat die gesetzliche Rentenversicherung im Krieg, in Flüchtlingszeiten, nach der deutschen Einheit immer gezahlt – im Gegensatz zu den Privaten.

Aber in Ihrer Zeit als Minister ist doch etwas schief gelaufen. Immer weniger Leute haben Kinder bekommen. Wer hat den Generationenvertrag gebrochen?

KÖHLER: Wahrscheinlich Leute wie ich, die nicht wissen, warum man Kinder kriegen sollte. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass man eine Spur hinterlassen, Anerkennung bekommen und sich selbst verwirklichen will. Viele dieser Bedürfnisse können wir heute aber anders befriedigen als durch Kinder.

BLÜM: Genau. Das ist dann eine Gesellschaft, die an Ich-Verkrampfung leidet und in Versuchung gerät, nicht an die Zukunft zu denken. Das ist in meinen Augen das viel größere Problem, wenn eine Gesellschaft keine Kinder mehr bekommt, nicht so sehr die Rentenkassen.

KÖHLER: Ich habe die ganze Debatte verfolgt, über mangelnde Betreuungseinrichtungen und Selbstverwirklichung der Frauen, aber das führt in die Irre. Ich bin überzeugt: Jemand, der ein Kind haben möchte, bekommt es auch. Unsere Großmütter im Bombenkeller haben auch Kinder bekommen.

Warum haben Sie sich denn für Kinder entschieden, Herr Blüm?

BLÜM: Zu meiner Vorstellung von Ehe gehören einfach mehr als zwei. Man kann das Glück gar nicht auf zwei beschränken – auch wenn es uns materiell damals ausgesprochen schlecht ging. Wir haben in einer kleinen Wohnung gelebt, Klo auf dem Hof. Ich habe halb studiert und war halb bei den Sozialausschüssen tätig ...

KÖHLER: ... und dann hat Ihre Frau die Kinder erzogen und Sie haben Karriere gemacht.

BLÜM: Ich sag das ja auch durchaus selbstkritisch. Trotzdem sind Karriere und Einkommen nicht die höchsten Güter der Welt. Arbeit ist nicht die einzige Form der Selbstverwirklichung. Und nicht jede Differenz zwischen Frau und Mann ist eine Diskriminierung.

KÖHLER: Die Frage, ob gleichberechtigt oder nicht, stellt sich uns Frauen doch gar nicht mehr. Vielmehr ist es so, dass wir so selbstverständlich ins Berufsleben integriert sind, dass mir der Gedanke an ein Kind gar nicht in den Kopf kommt, weil immer schon der nächste berufliche Schritt da ist. Mich erfüllt der Beruf sehr, ich habe nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Und solange man keinen Mangel empfindet, muss man sich ja nicht für ein Kind entscheiden. Und Kinderkriegen ist inzwischen die einzige richtige Entscheidung, die man treffen muss. Alle anderen fällen sich von alleine. Man torkelt so ein bisschen durchs Leben, und wenn einem kein Kind aus Versehen passiert, dann entscheidet man sich dafür oder nicht.

BLÜM: Ich glaube, es liegt an der Fixierung aufs Materielle.

KÖHLER: Das stimmt nicht. Es muss zum Leben reichen, gut. Aber um 500 Euro mehr oder weniger geht’s am Ende nicht. Sondern viel mehr um Immaterielles, um Anerkennung und soziale Kontakte. Früher war das einzige soziale Netz die Familie. Das Netz ist heute viel weiter und damit natürlich auch wichtiger geworden.

BLÜM: In diesem Netz webt aber jeder für sich und nicht mit dem anderen. Wir müssen es hinkriegen, dass die Leute miteinander leben. Und dass sie erfahren, wie schön das Leben mit Kindern ist.

KÖHLER: Aber dass es schön ist, das wussten Sie doch erst nach der Entscheidung.

BLÜM: Es ging gar nicht um eine bewusste Entscheidung. Ich bin auch nicht auf die Welt gekommen, weil meine Eltern ein Brainstorming machten, das zum Ergebnis hatte: Jetzt setzen wir den Norbert in die Welt. Liebe ist doch keine Rechenaufgabe. Wenn ich anfange zu überlegen, was mache ich, um was zu bekommen, dann muss ich auf die schönsten Sachen der Menschheit verzichten: auf Liebe, auf Vertrauen.

War es in Ihrer Zeit vielleicht schwieriger, ohne Kinder glücklich zu sein?

BLÜM: Wir hatten natürlich nicht so viele Optionen. Deshalb konnten wir auch nicht durch Kinder eingeschränkt werden. Wenn Freiheit die Maximierung von Wahlmöglichkeiten bedeutet, dann stehen Kinder natürlich im Wege. Ich habe einen anderen Freiheitsbegriff. Freiheit heißt, sich für etwas zu entscheiden, sich auf etwas festlegen. Vielleicht ist die höchste Freiheit die Liebe. Die ist so paradox. Sie ist eine Abhängigkeit, die unabhängiger macht. Für ein Denken, das in Vor– und Nachteilen misst, ist das natürlich völlig idiotisch.

KÖHLER: Für mich ist Freiheit eigentlich auch Freiheit für etwas. Aber wir nehmen uns die Freiheit nicht, das würde ja eine Entscheidung verlangen. Wir heute entscheiden uns ja auch nicht bewusst gegen Kinder, sondern wir kommen einfach gar nicht dazu, uns für eins zu entscheiden. Ich glaube auch nicht, dass es am mangelnden Vertrauen in die Zukunft liegt. Jemand, der Kinder will, wartet nicht auf Karriereschritte, das sind alles nur Rationalisierungen.

Warum gehen die Jungen in Frankreich zu Tausenden auf die Straße und kämpfen für sichere Arbeitsplätze, und in Deutschland nimmt die junge Generation die laufende Verschlechterung ihrer beruflichen Perspektiven tatenlos hin?

KÖHLER: Das weiß ich auch nicht. Vielleicht geht’s uns noch zu gut. Immerhin führen wir harte Debatten, zum Beispiel über das Bürgergeld-Modell. Dabei bekommt jeder einen Betrag vom Staat, der seine Existenz sichert – frei von irgendwelchen Bedingungen. Es wird durch eine auf 25 Prozent hochgesetzte Mehrwertsteuer finanziert. Da könnte man den Sozialapparat abschaffen, die Arbeit würde billiger, es gäbe mehr Jobs und vielleicht auch mehr Kinder.

BLÜM: Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Ich finde das Beitragssystem besser. Es belohnt proportional, in dem Maße, wie der Einzelne selbst zur Solidarität beiträgt, bekommt er etwas zurück. Beim Grundeinkommen bekommt jeder das Gleiche, egal, ob er arbeitet oder nicht. Das ist ungerecht und nimmt die Motivation, überhaupt zu arbeiten. Der Mensch ist kein Engel. Er braucht eine Belohnung.

KÖHLER: Naja, er könnte von dem Grundeinkommen ja keine Statussymbole kaufen. Das würde ja nur das absolute Minimum abdecken. Zudem sehnt sich der Mensch ja auch nach Anerkennung. Und die kriegen auch Engel nicht fürs Rumsitzen.

BLÜM: Aber wie wollen Sie das institutionalisieren? Sie fordern eine Sozialhilfe ohne Bedürftigkeitsprüfung. Aber die hohe Mehrwertsteuer, die ich beim Kaufen bezahlen müsste, käme letztlich auch wieder aus der Arbeit. Wie Sie es auch drehen und wenden: Die demografische Frage ist vor allem eine Frage nach der Zukunft der Arbeit. Nicht die Anzahl der Köpfe und Hände ist für die Rentensicherheit entscheidend, sondern die Frage, wie produktiv die sind. Ich bin überzeugt, dass es genug Arbeit gibt. Es gibt zum Beispiel eine große Sehnsucht nach Dienstleistungen von Mensch zu Mensch, weil wir immer mehr von Maschinen oder anonymen Hilfskräften in Callcentern bedient werden. Die Philosophin Hannah Arendt hat einmal gesagt, der Arbeitsgesellschaft werde irgendwann die Arbeit ausgehen, und sie meinte die Arbeit in der Produktion von Gütern. Aber das Herstellen stößt an Grenzen. Handeln im Sinne von Tätigkeit für und mit Menschen ist ein weit offenes Feld. Wir müssen nur den Arbeitsbegriff aus den Fesseln der alten Industriegesellschaft herausholen.

Haben Sie Hoffnung, dass es dann wieder Arbeit für über 50-Jährige geben wird?

BLÜM: Die über 50-Jährigen des Jahres 2050 werden anders sein als die des Jahres 2006. Die Alten werden jünger. Die 70-Jährigen heute gleichen den 50–Jährigen vor 30 Jahren. Die Hinfälligkeit steigt ja nicht mit der Zahl der Alten. Der Jugendwahn, der dazu führt, dass jetzt kaum mehr jemand über 45 eingestellt wird, wird sich brechen, wenn die Mehrheit über 50 ist. Dass wir diesen Jugendwahn haben, ist auch das Ergebnis einer alten Generation, die sich nicht zu ihrem Alter bekennt. In unserer Gesellschaft muss man fit sein oder zumindest so tun. Der kleine Mozart wurde angezogen, als wäre er 70, mit Puder geschminkt. Heute hat der 70-Jährige den Ehrgeiz, auszusehen wie ein 17-Jähriger.

KÖHLER: Das stimmt. Im Moment ist Altsein in unserer Wahrnehmung nur in Ordnung, wenn man nicht gebrechlich ist. Ich glaube auch, dass sich das ändern wird. Das lässt sich schon daran ablesen, wie viele Rentnerfilme mit alternden Protagonisten es neuerdings gibt.

Wie wird die Gesellschaft im Jahr 2050 aussehen?

KÖHLER: Ich sehe vor mir lauter graue Mäntel, die mit spitzen Stöcken durch die Straße gehen und voll Neid auf die wenigen Jugendlichen blicken. Aber mal im Ernst: So wird’s ja nicht sein. Das Erwachsensein hat sich ja schon verändert, die gesamte Gesellschaft ist jugendlicher geworden, in ihrer Lebensführung, in ihrem Lebensstil. Man ist freier, flexibler, was früher ein Privileg der Jugend war. Ich stelle es mir nicht so schlimm vor, befürchte aber, dass ganz viele alte Menschen in Armut leben werden.

BLÜM: Ich hoffe, dass sich die immateriellen Werte verbessern, dass man sich für Geschichte interessiert, dass Erzählungen wichtiger werden. Und dass wir von den Alten eine Kunst der Entschleunigung lernen. Denn jetzt leben wir im rasenden Stillstand. Die Sehnsucht nach ständig Neuem führt dazu, dass manche Elektrogeräte nur noch drei Monate verkauft werden, bevor ein neues Modell auf den Markt kommt. Aus diesem Narrentanz müssen wir uns befreien.

Das Gespräch moderierten Claudia Keller und Harald Schumann. Das Foto machte Christoph Papsch.

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