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Politik: Ignoriert, nicht integriert

Von Ingrid Müller

Sie sind da. Sie sind viele. Und sie werden immer mehr: Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Mehr als 40 Prozent der bis 18-Jährigen in Berlin stammen aus Familien, in denen nicht Deutsch die Herkunftssprache ist. In 20 Jahren wird jeder zweite Schüler aus einem solchen Elternhaus stammen. Einen Monat nach dem Integrationsgipfel im Kanzleramt gibt der Mikrozensus uns allen neue Zahlen an die Hand. Doch was machen wir damit?

Nicht einmal eine Woche nach den vereitelten Anschlägen von London verbreitet sich bei vielen Menschen allein beim Wort Migrant ein ungutes Gefühl: Waren die, die Scotland Yard gerade als mutmaßliche Flugzeugbomber festgenommen hat, nicht junge Migranten? Wohnten sie nicht in bürgerlicher Umgebung, schienen in die Gesellschaft integriert zu sein? Haben nicht einige der Attentäter des 11. September ganz unauffällig in Hamburg studiert? Wieder stellen sich viele die Frage: Wer wohnt da unter uns? Wir wissen und erleben es jeden Tag, dass die allermeisten Ausländer und Eingebürgerten bei uns genauso wenig Verständnis für die Pläne der Attentäter haben wie ihre deutschen Nachbarn.

Aber wissen wir, wer nebenan wohnt? Vielleicht sollten wir uns genau die Frage öfter stellen. Interessieren wir uns überhaupt für die Nachbarn? Wir reden immer und immer wieder von Integration. Aber in der Debatte hört es sich immer noch allzu oft wie Invasion an. Und so, als ob wir uns vor etwas schützen müssen, das überhandzunehmen droht.

Die Fakten sprechen eine einfache Sprache: Viele Menschen aus Migrantenfamilien haben längst einen deutschen Pass. Aber sie haben auch einen anderen kulturellen Hintergrund. Und, kennen wir den? Kennen wir wirklich mehr von ihrer Kultur als Döner und Falafel, oder dass viele von ihnen in die Moschee gehen und die Familien meist größer sind? Wer sind ihre Schriftsteller? Welche Werte sind Grundlage ihrer Religion? So wie die Welt globaler wird, verändern sich die Gesellschaften. Auch wenn es viele nicht wahrhaben möchten: In Berlin leben viele junge Deutsche mit ausländischem Hintergrund, ihre Gruppe ist statistisch größer als die der Ausländer bis 18 Jahre. In den USA sind es Menschen spanischsprachiger Herkunft, in Großbritannien viele Pakistaner und Inder. Sie sind längst da. Sie kommen nicht erst. Da führt die Diskussion um (verschärfte) Zuwanderungsgesetze in die Irre.

Seien wir realistisch: Deutschland steht – ebenso wie viele andere Länder – vor riesigen Veränderungen. Die Migranten werden die Gesellschaft verändern. Sie sind Teil der Gesellschaft, aber haben sie teil an der Gesellschaft, in der sie leben? Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat Integration als immer wieder zu erneuernde Bindung an gemeinsame Werte bezeichnet. Gemeinsam muss sich die Gesellschaft auf Werte verständigen. Das nennt man auch Kultur. Allerdings müssen die Menschen sich dazu miteinander verständigen können und wollen. Auf beiden Seiten. Selbst von vielen Nachbarn, die wir als gut integriert bezeichnen, wissen wir doch gar nicht, was sie bewegt. Wir wissen oft nur, wo sie sich bewegen. Was wissen wir von denen, auf die die Nation seit der WM so stolz ist wie David Odonkor und Lukas Podolski?

Ganz viele aber können wir nicht einmal verstehen – und sie uns nicht. Sie sprechen nicht unsere Sprache. Da ist lang weggeschaut worden, obwohl jeder sehen konnte, dass Jahr für Jahr mehr ausländische Kinder in die Schulen kamen. Ignoriert statt integriert.

Bildung von ganz früh an ist eins der Stichworte. Deutsch lernen im Kindergartenalter, aber auch die Werte der anderen kennenlernen. Das heißt: alle in den Kindergarten. Kostenfrei. Dort können Erzieherinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund helfen. Doch davon gibt es in Deutschland nur wenige. Die allerwenigsten Ausländerkinder machen Abitur, ein verschwindend geringer Teil von ihnen wird Lehrer. Vielleicht gibt es im Ausland Personal, das wir anwerben können?

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Die können alle verstehen. Wir sollten es auch tun. Egal wie einfallsreich Familienpolitik gestaltet wird, deutsche Frauen werden nicht dagegen angebären.

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