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IM-Bekenntnis "Stasiratte": Jana Döhring, die Täterin vom Dienst

Jana Döhring hat einen Roman geschrieben, der keiner ist. Er ist viel zu wahr: „Stasiratte“ ist das Bekenntnis ihrer Tätigkeit als IM. Jetzt muss sie sich öffentlich rechtfertigen. Warum es trotzdem irgendwie befreiend ist.

Von David Ensikat

Und was, wenn eine sagt: Ich war dabei? Wenn sie die Karten auf den Tisch legt und sich bekennt: Ich war ein Spitzel für die Stasi, keine Erpressung brachte mich dazu, meine Motive waren niedrige? Der Verrat währte vier Jahre, ich habe ihn nicht beendet. Zu meiner Entschuldigung kann ich vorbringen: eigentlich nichts. Ich erzähle nur, wie es geschehen ist.

Es ist Buchmesse in Leipzig, in der ganzen Stadt wird vorgelesen. In der Gutenbergschule aus „Die Herrschaft der Orks“, in der Stadtbibliothek aus „Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt“. In einem Museum namens Runde Ecke: „Stasiratte“. Die Autorin, Jana Döhring, liest aus ihrem Buch, das sie Roman nennt, das aber etwas ziemlich anderes ist, ein Bekenntnis, die Erinnerung an ein weit entferntes Leben, verfremdet nur an wenigen, unwesentlichen Punkten.

Das Museum Runde Ecke war zur DDR-Zeit auch was anderes: Die Stasi-Zentrale der Stadt Leipzig. Seit 1990 wird hier Geschichte aufgearbeitet. Die Räume riechen noch nach DDR, an den Wänden zu besichtigen: ein Repressionssystem auf Schautafeln. An diesem Tag im März, an dem in Leipzig überall vorgelesen wird, geschieht das auch hier, zunächst aus einem Buch über das Frauenzuchthaus Hoheneck. Danach ist „Stasiratte“ dran.

Um 21 Uhr soll die Veranstaltung beginnen, eine Viertelstunde vorher wird niemand mehr hineingelassen. Der schmale Flur, in dem die Lesung stattfindet, ist voll besetzt, doch vor dem Eingang stehen noch zwei Dutzend Leute. Der Museumsmann beschwört sie: „Mehr geht jetzt wirklich nicht!“ Die Stimmung ist angespannt, jemand ruft: „Unerhört!“ Ein anderer fordert den sofortigen Umzug in größere Räume, und es fehlt nicht viel zum Sprechchor „Wir sind das Volk!“. Vielleicht steht ja keine Lesung an, sondern ein Tribunal, eine Verhandlung über das Stasi-Unwesen, den Fluchtpunkt aller Aufarbeitung, Inkarnation des DDR-Unrechts. Wer darf da ausgeschlossen sein?

„Ich bitte um wirkliche Disziplin, damit das hier gut abläuft“, ruft die Leiterin des Museums, sie lässt noch ein paar Leute in angrenzende Räume, wo die nichts sehen werden, aber das meiste hören können, und spricht schließlich die einleitenden Worte. Sie rechtfertigt sich für die Lesung, hier an diesem Ort. Sie sagt, warum sie eine „Täterin“ zu Wort kommen lässt. „Nicht oft sprechen Leute von ihrer Schuld“, sagt sie, „und wenn sie es tun, dann um von ihr frei zu werden.“ Ob das geht, lässt sie offen. Sie spricht von empörten Reaktionen auf die Ankündigung der Lesung und beharrt darauf, dass zur Aufarbeitung nicht allein die Opferperspektive gehört. Gleichwohl gehe es um die „Zerstörung zigtausender Biografien“ und es gelte dahinterzukommen, wie das geschehen konnte. Da müsse man auch Täter sprechen lassen.

Die Täterin sitzt daneben und rührt sich nicht. Sie hat ein Buch geschrieben über ihr Leben vor 25 Jahren, über den Verrat, den sie begangen hat: Drei Jahre Spitzeldienste an der Bar eines Devisenhotels in Ost-Berlin. Sie hat der Stasi erzählt, dass dieser Kollege gern mal einen über den Durst trank (das taten schließlich alle hier), dass jener West-Fernsehen sah (wer tat das denn nicht), dass sie einen Gast beobachtet hat, der einem anderen Arzneipackungen überreichte (es konnte Aspirin sein). Sie hat über ihre Scham geschrieben und über die Angst davor, aufzufliegen.

Aber hier soll es um die „Zerstörung zigtausender Biografien“ gehen, und sie ist die Täterin? Daran kann sie jetzt nichts ändern, sie beginnt zu lesen.

Erstes Treffen in der "konspirativen Wohnung"

Um ihre Anwerbung als Inoffizielle Mitarbeiterin geht es in dem Kapitel, um die peinliche Feier anlässlich ihrer Verpflichtungserklärung. Es war Vormittag, sie traf ihren Führungsoffizier in einem Hotelzimmer.

„Wir können uns ruhig duzen“, war einer der ersten Sätze aus Hauptmann Gerbers Mund (...) Es war noch Zeit, einfach aufzustehen und ein „Tut mir leid, das ist alles ein Missverständnis“ zu sagen, die Zähne zusammenzubeißen und abzuhauen. Oder ich könnte ganz aufrichtig sein und ihm erzählen, wie ich mit dieser Entscheidung gerungen habe, dass mein Partner mir zu- und mein Gewissen mir abgeraten hatten. Einfach so, ganz ehrlich, der war doch nett, der würde das verstehen und dann... Dann holte ich tief Luft, sagte: „Ja klar, kein Problem“, und lächelte falsch.

„Also dann: Micha“, hörte ich ihn sagen.

„Jana“, sagte ich.

„Na dann“, fuhr Micha fort und griff zu einer Flasche Rotkäppchensekt, die in einem Kühler auf ihre Öffnung wartete.

„Oh“, war meine Reaktion, denn erst jetzt nahm ich wahr, dass wohl aus Gründen der Feierlichkeit ein paar Häppchen und etwas zum Anstoßen bereitstanden...

Der Satz, der das Ganze gut zusammenfasst, fällt etwas später, da wo sie von ihrem ersten Treffen in einer „konspirativen Wohnung“ erzählt. Die Wohnung gehört irgendwelchen Leuten, deren Kind längst ausgezogen ist. Die Inoffizielle Mitarbeiterin hockt mit ihrem Führungsoffizier im frei gewordenen Kinderzimmer und soll über ihre Kollegen Auskunft geben. Da heißt es: „Es war alles so erschreckend banal.“

Wer weiß, was die Besucher des Stasi-Museums von dieser Begegnung mit Jana, der echten Täterin, erwartet haben. Vor ihnen sitzt eine attraktive Frau von Mitte vierzig im Business-Kostüm, sie sieht ein wenig aus wie Maybrit Illner, und man könnte von einer kühlen Ausstrahlung sprechen, wäre sie nicht so aufgeregt. Hin und wieder verschluckt sie ein paar Silben. Sie konzentriert sich auf den Text, schaut kaum hoch. Wohin würde sie auch schauen? In die Augen von ein paar Dutzend Richtern, die nach Anzeichen von Reue suchen, von Erklärung für „die Zerstörung zigtausender Biografien“. Und jetzt ist alles so banal.

Jana Döhring war Anfang 20, als sie sich mit der Stasi einließ. Sie arbeitete an der Bar des Palasthotels in Ost-Berlin, einem teuren Ort für West-Besucher gegenüber dem Palast der Republik. Die Bar durften auch DDR-Bürger aufsuchen, wenn sie in der Lage waren, 5,50 Mark für ein Bier oder 14,40 Mark für einen Campari mit Orangensaft zu zahlen.

Wer hier arbeitete, war ein gemachter Mensch – vorausgesetzt, es ging ihm nicht um Solidarität und Sozialismus. Jana Döhring war so jemand. Der Sozialismus konnte ihr gestohlen bleiben, von ihren Eltern hatte sie kein gutes Wort über die DDR gehört. Auch ihr Freund war alles andere als eine „sozialistische Persönlichkeit“. Er ging keiner geregelten Arbeit nach, sondern machte blendende Geschäfte mit dem Mangel. Was immer knapp und also hoch begehrt war, Autoersatzteile etwa, er konnte es besorgen und verdiente sehr viel Geld.

Konnte sie es sich leisten, der Staatssicherheit einen Korb zu geben?

Es war das Jahr 1986, als der freundliche Stasi-Hauptmann Jana Döhring fragte, ob sie ihm nicht helfen wolle, finstere Machenschaften im Palasthotel aufzudecken, es gebe den Verdacht, an dessen Bar würde mit Drogen gehandelt. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste ja, dass die von der Stasi nicht die Guten waren. Sie wusste aber auch, dass sich ihr schönes Leben und vor allem das ihres Freundes weit jenseits der vorgesehenen Bahnen abspielte. Konnte sie es sich leisten, der Staatssicherheit einen Korb zu geben? Würde sie ihren Job behalten? Was wussten sie von den Geschäften ihres Freundes?

Der jedenfalls empfahl ihr mitzumachen. Und irgendwie aufregend fand sie das ganze auch: Sie als Spionin gegen Drogenbanden. Also unterschrieb sie die Verpflichtungserklärung und traf sich alle sechs bis acht Wochen mit Micha, ihrem Stasi-Mann. Sehr schnell stellte sich heraus, dass er kein Spionageabenteuer im Sinn hatte, sondern den miesen Verrat. An ihren Freunden und Kollegen.

Über deren Lebenswandel und Zuverlässigkeit verfasste sie Beurteilungen. Die Angst um ihre Stelle an der Bar, um ihr teures, schickes Leben mit Westauto und wildem Freund war stärker als das schlechte Gewissen. Schon damals gab es die Überlegung, die später die Enttarnten oft vorbrachten: Ich schade doch niemandem. Das bisschen Plauderei – und die Stasi weiß doch ohnehin viel mehr, als ich erzähle.

Die Jana-Döring-Geschichte in ihrer vermeintlichen Banalität kann man als beispielhaft für den real existierenden, also verrotteten Sozialismus der 80er Jahre ansehen: Eine junge Frau richtet sich ihr Nischenleben ein, so weit entfernt von Ideologie und Ideal, wie es nur geht – und um dieses Leben fortzuführen, lässt sie sich mit den kontrollwütigen Hütern von Ideologie und Ideal ein. Die Erziehungsdiktatur ist nur noch in der Lage, mit den schäbigsten Mitteln ihr Versagen aufzulisten. Die Verräterin hilft bei der Katalogisierung des Verfalls, sie führt Buch über die Nischen der Anderen. Und? Hat sie den Anderen geschadet?

Die Frage ist die erste nach der Lesung. Jana Döhring erzählt von einem Fall, und man weiß nicht recht, ob man sie für die Offenheit bewundern oder vor Scham gleich wegrennen soll. Eine neue Kollegin war an Jana Döhrings Bar versetzt worden, sie war schön, kam bei den Gästen bestens an. Jana Döhring sah, wie sie ihr den Rang ablief – und berichtete der Stasi von einer Liebesepisode der Konkurrentin mit einem West-Gast. Die hatte sie sich ausgedacht. Und der Kollegin geschah genau das, was Jana Döhring auch für sich immer fürchtete: Sie wurde von der Bar in den Bankettsaal versetzt, wo die Schichten strapaziös waren und das Trinkgeld gering ausfiel.

Weiteres Übel, das sie angerichtet hat, kann Jana Döring nicht benennen. Aber wahrscheinlich ist der IM ohnehin am wenigsten geeignet, über die Folgen seines Tuns zu sprechen. Das Gedächtnis ist nicht konstruiert, Belastendes abrufbar aufzubewahren. Hilfreich ist auch nicht die große Aktenbehörde, die den Schaden belegen könnte. Sie lässt Täter nicht in ihre Täterakten schauen. Jana Döhring ist sich auch nicht sicher, ob sie da hineinsehen wollte. Haben Sie sich entschuldigt bei der Frau?, will jemand wissen. Nein, sie wisse nicht einmal mehr, wie die Kollegin hieß. Und dann sagt Jana Döhring noch: „Wenn Sie so wollen, ist das ganze Buch eine Art Entschuldigung.“

Womit wir zurück wären in der Zeit der Aufarbeitung – oder, wahlweise, des Verschweigens, und bei der Frage, wie man mit so einer Sache umgehen kann, mit so viel Reue und einem Maß an Schuld, dass man nicht wirklich kennt. Interessant ist ja, wie Jana Döhring dazu kam, ihre Spitzelgeschichte zu erzählen.

Vor ein paar Jahren bekam sie Post von einem alten Freund, den sie längst aus den Augen verloren hatte. Sie waren Kollegen im Palasthotel gewesen und hatten viel freie Zeit gemeinsam zugebracht. Auch über ihn hatte sie der Stasi Auskunft erteilt, wovon er nun, viele Jahre später, aus seiner Akte erfahren hatte. Zwei handschriftliche Berichte von ihr steckten da und das Protokoll des Führungsoffiziers über ein Telefonat. Es ist nicht ganz klar, was der Freund von früher wollte, jedenfalls schickte er von nun an jeden Monat eine Postkarte an Jana Döhring. „Meinem Stasispitzel einen Gruß“, stand darauf.

Unter Tränen erzählte sie ihm alles

Mit niemandem hatte sie über ihre Stasi-Episode gesprochen, auch nicht mit dem Mann, den sie nach dem Mauerfall geheiratet hatte. Er kam aus dem Westen und hatte wenig Verständnis für diese ganzen Stasi-Geschichten, von denen man immer wieder aus der Presse erfuhr. Was wusste er denn schon von alledem? Würde er zu ihr halten, wenn sie ihm von ihrer Schuld, den Lügen und dem Schweigen erzählte? Niemals hätte sie ihn eingeweiht, hätte sie irgend jemandem etwas erzählt. Sie konnte es sich gar nicht anders vorstellen, als die Sache mit ins Grab zu nehmen. Sie hatte diese Fantasie, sie ist tot, liegt unten in der Grube, oben alle Trauernden mit Tränen in den Augen, und keiner von ihnen weiß etwas. Blieb nur die Hoffnung, dass sie selbst das alles irgendwann vergessen würde.

Aber da kamen diese Karten, jeden Monat eine. Ein Jahr lang hielt sie es aus, lief stets als erste an den Briefkasten, damit ihr Mann nur nichts erfuhr. Dann brach es doch aus ihr heraus. Unter Tränen erzählte sie ihm alles. Und er fand das sehr, sehr spannend. Keine Vorwürfe, nur Interesse. Und der Vorschlag: Mach ein Buch daraus! Alle reden über die IM-Geschichten, aber hat je ein IM seine Geschichte aufgeschrieben?

Inzwischen waren sie umgezogen, nach Köln, die Heimat ihres Mannes. So weit entfernt von ihren Sünden gelang es ihr, sie aufzuschreiben, gewiss nicht literarisch wertvoll, aber schonungslos und offen – soweit der Außenstehende das jedenfalls beurteilen kann. Sie schickte die Geschichte an Verlage, und wenn sie Antworten bekam, so waren es Absagen. Über die Gründe stand da nichts, man kann nur spekulieren. Interesselosigkeit mag einer gewesen sein, entscheidender war sicherlich die Täter-Perspektive. Da fallen jedem Lektor viele Vorwürfe ein: Verharmlosung, Rechtfertigung, ein Podium für das Böse. So brachten Jana Döhring und ihr Mann das Buch im eigenen Verlag heraus und mieteten sich auf der Frankfurter Buchmesse einen kleinen Stand.

Von einem Erfolg kann man nicht sprechen. Das Interesse an dem Buch hält sich in Grenzen, der Verkauf läuft eher schleppend. Da ist jede Lesung, jede Einladung zum Pressegespräch sehr willkommen. Der Mann aus dem Leipziger Publikum, der mutmaßte, dass sie mit ihrer zweifelhaften Geschichte jetzt auch noch viel Geld verdiene, irrte sich ebenso wie jener, der davon ausging, dass die Stasi ihr damals einen Lohn auszahlte.

Jana Döhring sagt, sie wolle, wenn sie Geld mit dem Buch verdiene, einen Teil davon an eine Opferorganisation spenden. Das hier ist eben mehr als ihre eigene Geschichte. Jana Döhring ist die Täterin vom Dienst. Sie war eine kleine Inoffizielle Mitarbeiterin der großen Stasi-Krake, eine von Hunderttausenden. Jetzt ist sie die Einzige, die öffentlich darüber redet. Sie sagt, sie wolle den anderen Mut machen, über ihre Verstrickungen zu sprechen. Ihr habe ihre Offenheit nur gut getan. Eine Riesenlast habe sie abgeworfen.

Im persönlichen Gespräch bei einem Treffen in Berlin wirkt sie entspannt und aufgeschlossen. Sie erzählt von den befreienden Gesprächen mit ihren Eltern – sie hatte ihrem Vater das Buch zum Geburtstag geschenkt; daraus sollte er ihre Geschichte erfahren. Sie erzählt von ihrem großen Sohn, der zu ihr hält. Und sie sagt, wie gut es tue, sich vor dem Thema nicht mehr zu verstecken. Erst vor ein paar Monaten sah sie sich „Das Leben der Anderen“ an, früher hat sie, wenn es um die Stasi ging, weggeschaltet, weggehört.

Selbstverständlich hat sie nicht geahnt, in welche Rolle sie sich mit dem Buch begab. Selbstverständlich war ihr unwohl bei der Lesung im Leipziger Stasi-Museum. Natürlich befindet sie sich in einer ständigen Rechtfertigungshaltung. Aber was soll sie tun? Aus der Sache kommt sie nicht mehr raus. Damals war es die Verpflichtungserklärung, jetzt das Buch. Sie steht für Interviews und Lesungen weiter zur Verfügung. Der einzige, kleine Schutz, auf den sie noch beharrt, das ist der Name. Ihren wahren gibt sie nicht preis. Sie nennt sich Jana Döhring, als Jana Döhring signiert sie auch die Bücher nach den Lesungen. „Jana Döhring“ war ihr IM-Tarnname bei der Stasi.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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