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Politik: Im dem westrussischen Dörfchen trägt jeder zehnte Einwohner den Namen des Moskauer Staatschefs

Ein ungünstigerer Moment für einen Besuch in Sagutejewo lässt sich kaum denken. Die Desna, deren Eis allmählich schmilzt, ist über die Ufer getreten und hat ganze Landstriche in Morast verwandelt.

Ein ungünstigerer Moment für einen Besuch in Sagutejewo lässt sich kaum denken. Die Desna, deren Eis allmählich schmilzt, ist über die Ufer getreten und hat ganze Landstriche in Morast verwandelt. Selbst mit Gummistiefeln ist die Dorfstraße kaum begehbar. Immer wieder saugen sich die Sohlen im Schlamm fest. Doch das Kamerateam aus Moskau hatte triftige Gründe für die Luftlandeoperation in dem gottverlassenen Kaff im Gebiet Brjansk, hart an der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine. Von den knapp 600 Einwohnern Sagutejewos trägt jeder zehnte den Familiennamen Putin.

Zufall? "Keineswegs", sagt Chefagronom Wladimir Putin, 48, und kramt alte Fotoalben hervor. Die von ihm beschworenen Ähnlichkeiten zwischen Russlands neuem Staatschef und den ordenbehangenen Helden des Großen Vaterländischen und des Bürgerkriegs können die vom Himmel gefallenen Besucher allerdings auch nach mehreren Gläschen Selbstgebranntem nicht so recht erkennen. Landwirt Wladimir Putin muss daher einen weiteren Wladimir Putin um agitatorische Schützenhilfe bitten. Der ist 60, wohnt glücklicherweise im Haus nebenan und war bis 1990 in der Dorfparteileitung für Agitation und Propaganda zuständig. "Putin ist einer von uns", sagt Putin im Brustton der Überzeugung. Hier ist die historische Urheimat seiner Sippe, das weiß ich von meinem Großvater."

Zirkel für Putinologie gegründet

Der hat zwar schon vor fast fünfzig Jahren das Zeitliche gesegnet, zuvor aber an Enkel Wladimir die Putin-Saga weitergegeben, die dieser - oh Wunder - die ganze Zeit treulich im Gedächtnis bewahrt hat. Wer weiß, mag er sich gesagt haben, wozu die noch gut sein kann. Demzufolge soll es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur einen einzigen Putin in Sagutejewo gegeben haben. Der allerdings zeugte fünf Söhne, von denen der eine, Pjotr, als das Dorf 1917 die Nachricht von der Oktoberrevolution erreichte, nach St. Petersburg ging, um dort für die Sache des Proletariates zu kämpfen. Diesem Zweig soll der Präsident entstammen. Die anderen vier Brüder blieben im Dorf. Sage und schreibe vierzig Familien in Sagutejewo behaupten daher, sie seien mit dem Präsidenten verwandt, wenn auch um sieben Ecken.

"Schon im August, als Boris Jelzin ihn zum neuen Premier ernannte", sagt ein weiterer Putin, der ausnahmsweise auf den Namen Alexander hört, "waren wir uns sicher, dass Putin unser Mann ist." Alexander, in Zagutejewo als Dorfschullehrer tätig, will es am Gang, an den Gebärden, vor allem aber an der volksnahen Sprache erkannt haben. "Sie meinen die Terroristen, die Herr Putin auf dem Klo massakrieren wollte?", erkundigt sich der Korrespondent. Putin überhört die Provokation und geht zu einem unverfänglicheren Thema über - der Heimatforschung.

"Gleich, als wir nach Neujahr wieder nüchtern waren," berichtet Alexander Putin, "haben wir einen Zirkel für Putinologie gegründet, der Ahnenforschung betreibt." Beim Studium der Kirchenbücher, ergänzt Expropagandist Wladimir, der dem Zirkel als Schriftführer dient, habe sich herausgestellt, dass "der Name Putin nicht nur einer der ältesten in Sagutejewo ist, sondern wahrscheinlich sogar adligen Ursprungs."

Schlüssige Beweise für die sensationellen Erkenntnisse muss Wladimir Putin "im Interesse weiterer Ermittlungen" allerdings vorerst für sich behalten. Gelüftet werden soll das Geheimnis sowieso erst, wenn Präsident Putin kommt. Eine entsprechende Einladung müsste längst im Kreml sein. Geschrieben hat sie der einzige Dorfbewohner, der sich rühmen kann, den selben Vor-, Vaters- und Familiennamen zu haben wie der hohe Verwandte - der dreizehnjährige Schüler Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er hat bei der Gelegenheit den Großonkel auch gleich um einen neuen Traktor für seinen Vater, den Landwirt Wladimir, gebeten.

Der "Präsident" ist 13 Jahre alt

Jung-Wladimir, den seine Mitschüler noch vor einem Jahr einfach Wowik riefen (übliche Koseform für Kinder, die Wladimir heißen), rückte im letzen August zum "Premier" auf und beansprucht seit Ende März den Titel "Präsident". Irgendwo hat er sogar eine Pelzmütze aufgetrieben, die fast so aussieht, wie die, die der Herr des Kremls sich bei sehr kaltem Wetter überstülpt. Die ist Wowik zwar um einige Nummern zu groß, doch der Junge mag sich trotz Frühlingswetter nicht von ihr trennen. Adel verpflichtet.

Wenn der große Wowik wirklich nach Sagutejewo kommt, wollen die Dörfler ihm nur mit bescheidenen Wünschen konfrontieren. "Es wäre schön, wenn wir endlich Gas bekämen", sagt einer. Mit Forderungen, die Dorfstaße zu asphaltieren und für eine Anbindung an die Fernverkehrsstraße zu sorgen, wollen die Putins Putin nicht belästigen. Das Problem, so die landläufige Meinung, würde ohnehin im Vorfeld des Besuches gelöst, weil sonst die Staatskarossen stecken bleiben. "Dafür garantieren wir ihm hundert Prozent Stimmen bei den nächsten Wahlen", verspricht Expropagandist Wladimir Putin. An das Debakel im März mag er nicht gern erinnert werden. Da stimmten die Leute von Sagutejewo mehrheitlich für KP-Chef Sjuganow. "Das waren die anderen", sagt Wladimir. "Wir Putins wissen, was sich gehört." Auch Fragen, wie er es denn mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halte, hat Russlands Präsident von der Verwandschaft nicht zu befürchten: "Der Russe braucht eine feste Hand, die auch mal zuschlägt", meint einer der Putinologen. Was bei all diesen demokratischen und freiheitlichen Mätzchen herauskomme, habe man ja gesehen: "Die Leute haben sogar die Stromleitungen zerlegt und als Buntmetallschrott auf dem Markt in der Kreisstadt verkauft." Doch das waren sicher auch die KP-Wähler.

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