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Politik: Im Rausch danach

Das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Krieg hatte viele Ursachen – nur ein Wunder war es nicht

Männer, die Bäume im Stadtpark abholzen, um über den Winter zu kommen, Frauen, die auf dem Schwarzmarkt teuren Schmuck für einen Laib Brot eintauschen, alte Menschen, die Zigarettenkippen vom Straßenpflaster auflesen, Kinder, die Kohlen aus Eisenbahnwaggons stehlen – nach dem Ende des Krieges kämpfen die Deutschen mit großer Not und Hunger. Kaum zehn Jahre später, Mitte der Fünfzigerjahre, können die Leute wieder nach Herzenslust einkaufen gehen, Plattenspieler, Schokolade oder Fernseher ordern und mit ihrem neuen Volkswagen nach Italien fahren. Das Wirtschaftswunder, der rasante Wiederaufstieg des zerstörten Landes, ist in vollem Gang, und Ludwig Erhard, der Mann mit der dicken Zigarre, die Ikone des Erfolgs. Bis heute ist das Wirtschaftswunder nach dem verheerenden Krieg eines der wichtigsten Mythen der Bundesrepublik – und die Sehnsucht nach einem neuen Boom schwingt bei jeder Reformdiskussion mit.

Doch mit einem großen Wunder hatte der im Mai 1945 begonnene Wiederaufbau herzlich wenig zu tun. Die Deutschen hatten Glück, das richtige Personal in den Betrieben wie in der Politik, bekamen massive Hilfe von den Alliierten – und profitierten zudem von den Wirtschaftsgesetzen, die noch aus der Nazi-Zeit stammten. So konnte sich das deutsche Bruttosozialprodukt allein zwischen 1950 und 1960 mehr als verdoppeln – der Wert der produzierten Güter und Leistungen stieg von 113 auf 235 Milliarden Mark an. 1955 erreichte die Wachstumsrate den Spitzenwert von 12,1 Prozent, im Schnitt des Jahrzehnts lag das Plus bei 7,6 Prozent. Die Wirtschaft holte das Wachstum nach, was in den Kriegsjahren hatte ausbleiben müssen. Erst 1966 verlangsamte sich der Boom.

1945 lagen die Städte in Trümmern, Straßen und Schienen waren schwer beschädigt, die Landwirtschaft ruiniert, die Lebensmittel knapp – doch viele Industriebetriebe konnten weiter arbeiten. „Die Fabriken waren weniger stark zerstört als oft angenommen“, sagt Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker an der Berliner Humboldt-Universität. „Immerhin war das Produktionspotenzial nach dem Krieg noch immer höher als vorher.“ Der Grund: In den Kriegsjahren hatte die Industrie massiv investiert – vor allem im Bereich Maschinenbau, um für die Wehrmacht Rüstungsgüter liefern zu können. Für den Neubeginn in der Bundesrepublik konnten die Unternehmen ihre Produktpalette dann rasch auf Investitionsgüter umstellen. Zudem hatte die Industrie unter dem Druck des Krieges neue, effizientere Herstellungsmethoden entwickelt. Und es gab Zehntausende gut ausgebildete Arbeitskräfte – Kriegsheimkehrer und Vertriebene. „Im Deutschen Reich hatten sie eine gute Ausbildung bekommen“, sagte Jörg Baten, Historiker an der Universität Tübingen. „Das war einer der wichtigsten Faktoren für den schnellen Wiederaufstieg des Landes.“

Abnehmer fanden die Autos, Maschinen und Anlagen aus der jungen Bundesrepublik schon bald in den übrigen westeuropäischen Staaten. Ein wahrer Exportboom setzte ein, zwischen 1950 und 1966 stieg der deutsche Anteil am Weltexport von 3,5 auf elf Prozent. Möglich geworden war dies allerdings erst durch den Marshall-Plan der USA. Die insgesamt 14 Milliarden Dollar, die bis Ende 1952 aus Washington flossen, sorgten in den großen Ländern Europas für Modernisierungsschübe. „Noch wichtiger als das Geld war aber die mit ihm verbundene Re-Integration der Bundesrepublik in die europäische Wirtschaft“, sagt Historiker. Das nach 1945 zunächst völlig isolierte Land konnte Handel treiben, Know-How und Kapital anziehen, seinerseits im Ausland investieren. Ohne die Hilfe der USA wäre die Aufnahme Deutschlands in die Montanunion und später die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kaum denkbar gewesen.

Ohne funktionierendes Rechtssystem lässt sich allerdings kaum ein Unternehmer zu Investitionen hinreißen. Die Deutschen konnten indes auf viele Regulierungen aus der Nazi-Zeit zurückgreifen – deshalb überlebten der Ladenschluss oder das Versorgungsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen, deshalb blieb die Nutzung der Autobahnen gebührenfrei. Ludwig Erhard konnte weite Teile der Wirtschaftsordnung kurzerhand wieder in Kraft setzen. „Sein Einfluss auf das Wirtschaftswunder wird überschätzt“, sagt Ritschl daher. „Er musste nur die Kriegsbewirtschaftung aufheben und eine stabile Währung einführen.“ Eine weitgehende Deregulierung und Liberalisierung der Märkte habe es, wie heute oft behauptet, jedenfalls nicht gegeben. „Die Republik hatte nach dem Krieg eine Mischung aus gelenkter und freier Marktwirtschaft.“ Erhards größter Erfolg war indes die Währungsreform. 1948 bekam jeder Deutsche zunächst 40 D-Mark, später noch einmal 20 D-Mark ausgezahlt, die alten Währungen wurden am 21. Juni wertlos. Rasch füllten sich die Schaufenster wieder, ein Käfer zum Preis von 5300 D-Mark hatte plötzlich nur noch eine Woche Lieferzeit – und der Konsumrausch konnte beginnen.

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