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Im Wortlaut: Lage und Zukunft von Bosnien und Herzegowina

Anlässlich der Verhandlungen in Butmir bei Sarajevo über die gegenwärtige Lage und Zukunft von Bosnien und Herzegowina erklären Paddy Ashdown, Wolfgang Petritsch und Christian Schwarz-Schilling (Hohe Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina zwischen 1999 und 2007): Den Frieden sichern: Für eine europäische Zukunft Bosnien und Herzegowinas Paddy Ashdown, Wolfgang Petritsch und Christian Schwarz-Schilling Wir begrüßen, dass die Europäische Union und die Internationale Gemeinschaft Bosnien und Herzegowina wieder ernsthafte Aufmerksamkeit schenken. Die Ad-hoc-Verhandlungen in Butmir, die in dieser Woche fortgesetzt werden, rufen gleichermaßen unsere Sorge und Hoffnung hervor.

Anlässlich der Verhandlungen in Butmir bei Sarajevo über die gegenwärtige Lage und Zukunft von Bosnien und Herzegowina erklären Paddy Ashdown, Wolfgang Petritsch und Christian Schwarz-Schilling (Hohe Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina zwischen 1999 und 2007):

Den Frieden sichern: Für eine europäische Zukunft Bosnien und Herzegowinas
Paddy Ashdown, Wolfgang Petritsch und Christian Schwarz-Schilling

Wir begrüßen, dass die Europäische Union und die Internationale Gemeinschaft Bosnien und Herzegowina wieder ernsthafte Aufmerksamkeit schenken. Die Ad-hoc-Verhandlungen in Butmir, die in dieser Woche fortgesetzt werden, rufen gleichermaßen unsere Sorge und Hoffnung hervor. Einerseits bieten sie eine gute Möglichkeit, um den gegenwärtigen politischen Stillstand im Land zu überwinden und Bosnien und Herzegowinas Weg in eine Europäische Zukunft zu ebnen. Alle Verhandlungspartner haben die Möglichkeit und die Pflicht, praktikable Lösungen zu erarbeiten, die die Region zusätzlich stabilisieren und ein nachhaltiges und funktionierendes Regierungssystem in Bosnien und Herzegowina ermöglichen. Andererseits hat die Art und Weise, wie die Butmir-Initiative vorbereitet wurde, die Autorität und die Integrität des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft und des zukünftigen Sonderbeauftragten der Europäischen Union beschädigt. Es ist notwendig, den Vertreter der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina in diesen Prozess einzubinden, um eine angemessene und würdevolle Beendigung des Prozesses der Friedensimplementierung zu ermöglichen und um ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Bosnien und Herzegowina kann nur von der Internationalen Gemeinschaft unterstützt werden, wenn wir alle ruhig, integrierend, nicht-antagonistisch sowie transparent, in bestem Glauben und auf der Grundlage sachlicher Kriterien arbeiten. Die folgenden Punkte sind nach unserer Auffassung in diesem kritischen Augenblick von besonderer Bedeutung.

1. Damit aus dem Reformprozess stabile staatliche Institutionen, eine gestärkte Demokratie und eine gestärkte Rechtsstaatlichkeit hervorgehen und die europäische Integration ermöglicht und beschleunigt wird, ist es unverzichtbar, dass die Präsidentschaft, die Regierungen und die Parlamente, einschließlich der Oppositionsparteien, von Bosnien und Herzegowina als volle Partner integriert werden. Die Gespräche in dieser Woche müssen den Prozess einer nachhaltigen Verfassungsreform installieren und eröffnen, verankert in den relevanten Institutionen und der Zivilgesellschaft von Bosnien und Herzegowina, unterstützt von der Europäischen Union und dem Europarat. In enger Zusammenarbeit mit den USA sollte Europa finanzielle, strukturelle und organisatorische Unterstützung leisten, um einen finalen, erfolgreichen Reformprozess zu ermöglichen.

2. Wir sind überzeugt, dass es für Bosnien und Herzegowina eine stabile Zukunft in Frieden und Prosperität nur geben kann, wenn ein Ausgleich zwischen dem demokratischen Mehrheitsprinzip und der Berücksichtigung der Interessen der drei konstitutiven Völker sowie anderer Gruppen und Minderheiten gefunden wird. Blockademechanismen, die durch destruktive Handhabung des Friedensvertrages von Dayton manifestiert wurden und den Interessen aller Bürgerinnen und Bürger zuwider laufen, müssen überwunden werden, indem die diesbezüglichen Empfehlungen des Europarates und der Venedig-Kommission implementiert werden. Auf diese Weise kann sich Bosnien und Herzegowina zu einer voll ausgereiften Demokratie entwickeln, deren Verfassung alle Erfordernisse der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllt. Wenn keine Formel gefunden wird, das Entitätsabstimmungsverfahren zu ersetzen, werden diese Blockademechanismen und diskriminierenden Verfassungsklauseln auch weiterhin dem Leben aller Bürgerinnen und Bürger schaden und die europäische Zukunft von Bosnien und Herzegowina gefährden. Wahrscheinlich muss man zugestehen, dass diese entscheidende Frage in dieser Verhandlungsrunde nicht behandelt oder gar gelöst werden kann. Die in dieser Woche stattfindenden Verhandlungen müssen den ersten Schritt eines längeren Prozesses in Richtung Europa bilden und die rechtsstaatlichen Normen stärken. Dabei ist es entscheidend, dass alle Parteien in keinem Zweifel über die Konsequenzen gelassen werden: Das Ende des jetzt eingeleiteten Reformprozesses ist erst erreicht, wenn die Abschaffung des Entitätsabstimmungsverfahrens in beiden Parlamentskammern in seiner gegenwärtigen Form beschlossen ist, damit Bosnien und Herzegowina die notwendigen Bedingungen für einen europäischen Staat erfüllt.

3. Wir wünschen, hoffen und glauben, dass die Verhandlungen in dieser Woche nicht fehlschlagen. Jedoch sollte bereits jetzt in Erwägung gezogen werden, was geschieht, wenn die Gespräche doch scheitern. Der Friedensimplementierungsrat muss sich einen Reservemechanismus beibehalten, um von internationaler Seite Bosnien und Herzegowinas Frieden und Stabilität auch nach der Schließung des Büros des Hohen Repräsentanten zu garantieren. Einen ähnlichen Fall bildete Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Alliierte Kontrollrat das ultimative Souveränitätsrecht bis zur deutschen Vereinigung im Jahre 1990 beibehielt. Dieser Reservemechanismus wäre die ultima ratio in extremis, wenn der Frieden, die Stabilität oder die territoriale Integrität des Landes gefährdet wären. Wie die deutsche Nachkriegsgeschichte zeigte, bildet eine solche Reservemacht keinerlei Hindernis für eine weitere EU-Integration und eine NATO-Mitgliedschaft. Im Gegenteil: Sie wäre ein Schutzschirm, unter dem sich dieser Reformprozess entwickeln kann und eine verbindliche Verpflichtungserklärung der Internationalen Gemeinschaft gegenüber dem Land.

4. Anfang Oktober 2009 bewarb sich Bosnien und Herzegowina offiziell um eine Aufnahme in den NATO-Aktionsplan für eine Mitgliedschaft im Bündnis. Die Länder des Lenkungsausschusses des Friedensimplementierungsrates, d.h. Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, die Türkei, die USA, das Vereinigte Königreich zusammen mit den EU-Ländern, die der NATO angehören, haben es in ihrer Hand, nun einen klaren Zeitplan für Bosnien und Herzegowinas NATO-Mitgliedschaft bis 2011 zu beschließen. Bereits jetzt unterstützt Bosnien und Herzegowina weltweit die NATO-Operationen. Die Einbindung in die Allianz ist eine wichtige Sicherheitsgarantie. Zusätzlich zu den NATO-Mitgliedsstaaten Albanien und Kroatien muss dieses regionale Sicherheitsnetz nun zügig durch Bosnien und Herzegowina und Montenegro gestärkt werden. Deswegen verdient auch die diesbezügliche US-Initiative der Senatoren John Kerry und Richard Lugar entsprechende Unterstützung (NATO-Western-Balkans-Support-Act, August 2009).

5. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union müssen die Europäische Kommission beauftragen, die Visapflicht für Bosnien und Herzegowina unverzüglich aufzuheben, sobald die technischen Vorgaben der Visa-Road Map erfüllt sind. Bosnien und Herzegowina hat außerordentliche Forschritte gemacht, dank klarer Vorgaben. Die EU hat das Recht und die Verpflichtung, strikt zu sein, aber jetzt sollte sie zeigen, dass sie fair ist und nicht Bosnien und Herzegowina anders behandelt als seine Nachbarn. Visa-freies Reisen ist für die Menschen von Bosnien und Herzegowina entscheidend, um Europa positiv zu erleben. Reisefreiheit sollte nicht als Hebel in den Butmir-Gesprächen benutzt werden. Wenn Reisefreiheit in diesen Verhandlungen nun von anderen politischen Themen abhängig gemacht wird, beschädigt dies die Glaubwürdigkeit der Europäischen Kommission und der EU-Mitgliedsstaaten auf das Schwerste.

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