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Politik: Im Zeitraffer an die Regierung

Irak, Zypern, Öcalan – in nur wenigen Tagen muss der neue türkische Premier Erdogan heikle Themen anpacken

Als Recep Tayyip Erdogan vor dreieinhalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, säumten tausende jubelnde Anhänger seinen Weg in die Freiheit. Nun wurde Erdogan zum Ministerpräsidenten der Türkei ernannt, doch zu Triumphzügen blieb einfach keine Zeit: Am Sonntag ins Parlament gewählt, am Montag vom Wahlausschuss bestätigt, am Dienstag als Abgeordneter vereidigt und noch am selben Tag mit der Regierungsbildung beauftragt – so schnell ist in der Geschichte der Republik noch nie ein Ministerpräsident an die Macht gekommen. Wie im Zeitraffer spielt sich die Regierungsbildung in Ankara ab, denn der Krieg an der türkischen Südgrenze kann täglich ausbrechen.

Die Erneuerung der Türkei hatte Erdogan versprochen, als er seine AK-Partei im November an die Regierungsmacht führte. Nachdem das Problem seiner Vorstrafe mit einer Verfassungsänderung aus dem Weg geräumt wurde, kann der Erneuerer nun selbst das Ruder übernehmen – doch genau in diesem Moment fliegen ihm die politischen Altlasten der Türkei um die Ohren. Am Tag seiner Ernennung brachen die Zypern-Verhandlungen zusammen, was die Beziehungen zur EU belastet. Das Europäische Menschenrechtsgericht erklärte die Verurteilung von PKK-Chef Abdullah Öcalan für rechtswidrig, was neue Spannungen im kurdisch besiedelten Südosten heraufbeschwört. Und die Wirtschaft steht vor einer neuen Krise, wenn die Touristen wegen des Irak-Krieges fernbleiben.

So dramatisch diese Probleme auch sind, so hat Erdogan doch erst einmal noch brennendere Sorgen. Tausende US-Soldaten sind schon im Land und beziehen an der irakischen Grenze ihre Stützpunkte, obwohl das türkische Parlament ihnen die Stationierungserlaubnis verweigerte. Zehntausende GIs warten vor den Küsten auf das grüne Licht aus Ankara, auf das die US-Regierung drängt. Jenseits der Grenze gehen die nordirakischen Kurdenmilizen in Stellung, um ihre Autonomie gegen die türkischen Streitkräfte zu verteidigen, die bei Kriegsausbruch einmarschieren werden, um einen Kurdenstaat zu verhindern. Die türkische Armee steht einsatzbereit an der Grenze und wartet auf den Befehl aus Ankara: mit den USA einmarschieren – oder ohne sie?

Erdogan will alles daran setzen, dass die Türkei mit den Amerikanern handelt, wenn es losgeht. Bevor der erste Schuss fällt, will er im Parlament doch noch die Stationierungserlaubnis für die US-Truppen erwirken, von der alle Absprachen mit den Amerikanern abhängen. Die Stationierungsfrage spielte selbst bei der Regierungsbildung am Mittwoch eine Rolle: Zumindest Vize-Ministerpräsident Ertugrul Yalcinbayir sollte als Wortführer der Stationierungsgegner aus dem Kabinett fliegen, das Erdogan vom Übergangs-Premier Abdullah Gül übernimmt.

Dass türkische Wachen in Iskenderun am Mittwoch Warnschüsse abfeuern mussten, um Demonstranten am Sturm auf die dort wartenden US-Soldaten zu hindern, kann den einst als Populisten kritisierten Erdogan nicht beirren. Wenn es um die Zukunft des Landes gehe, dürfe er sich nicht von tagespolitischer Opportunität leiten lassen, argumentiert er. Vom Gefängnis bis an die Regierungsmacht gekommen, muss der Volksheld sein Land nun als Erstes in den Krieg führen – so hatten sich die Türken die neue Zeit nicht vorgestellt.

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