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Im BLICK: Die Macht der Strafe

Jost Müller-Neuhof über Kirche, Staat und Kindesmissbrauch.

Für politischen Streit gilt in gemilderter Form eine Erfahrung aus dem Krieg: Erstes Opfer kann die Wahrheit sein. Man lügt seltener, aber man über- oder untertreibt, lässt weg, wo man etwas sagen müsste oder sagt, was man weglassen müsste. Merkmale davon tauchten auch in der Konfrontation zwischen Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger und Erzbischof Robert Zollitsch um die Aufklärung von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auf.

Kindesmissbrauch sei ein Offizialdelikt, sagte die Ministerin, bei dem andere – gemeint war die Kirche – nicht darüber entscheiden sollten, ob es verfolgt wird. Sie vermisse konstruktive Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden. Ganz dem Kriegsvokabular verhaftet, sprach Zollitsch daraufhin von der bisher schwersten Attacke eines Regierungsmitglieds und stellte ein Ultimatum, die Äußerungen zurückzunehmen.

Um zurückliegende Fälle stritten die Kombattanten dabei weniger als um die aktuellen Leitlinien der Kirche. Hier heißt es: „In erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger wird dem Verdächtigen zur Selbstanzeige geraten und gegebenenfalls das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht“. Das hält Leutheusser-Schnarrenberger für ungenügend. Mit ihrer Pointierung erweckt sie aber den Eindruck, als träfe die Kirche eine Anzeigepflicht, als dürfe sie die Taten nicht verschweigen, wenn sie davon erfährt. Laut Strafgesetzbuch gilt Kindesmissbrauch allerdings nicht als Tat, die angezeigt werden muss. Bestraft wird nur, wer etwa das Wissen von Mord, Erpressung oder Hochverrat für sich behält. Kindesmissbrauch ist ein Offizialdelikt, weil es von Amts wegen verfolgt wird, unabhängig vom Willen des Opfers. Staatsanwälte müssen Verdachtsfällen nachgehen. Die Kirche muss es nicht. Sie kann selbst entscheiden, ob sie Verdachtsfälle meldet. Und wie sie dazu Leitlinien formuliert.

Die Kritik war dennoch keine Attacke. Dass einige Leitlinien nicht mehr in die Zeit passen, weiß auch Zollitsch. Wenn die Ermittler erst in „erwiesenen Fällen“ hinzugezogen werden – wer soll dann die Fälle bis dahin aufklären? Nur die Kirche? Es könnte ratsam sein, die Staatsanwaltschaft früher einzuschalten. Schon weil sie Ermittlungsbefugnisse hat, die Kirchenleute nicht haben. Die Kirche argumentiert, Opfer würden abgeschreckt, sich zu melden, wenn die Leitlinien eine Anzeigepflicht vorsähen. Das kann passieren – weshalb Leutheusser- Schnarrenberger so etwas auch nicht gefordert hat.

Macht die Kirche das mit? Sie hat es zumindest angekündigt. Wer die Leitlinien liest, der merkt, wie wichtig der Kirche bis heute ihr eigenes Recht ist, ihre eigene Sanktionsgewalt, ihre Hoheit über die eigenen Angelegenheiten. Sie will den Täter selbst mit „Sühnestrafen“ belegen, dem Opfer „therapeutische und pastorale Hilfe“ anbieten. „Kirchliche Gerichte“ sollen „Strafurteile“ fällen. Ein eigenes Strafrecht gilt als Kernanspruch jedes Souveräns. Im Streit zwischen Leutheusser-Schnarrenberger und Zollitsch begegnete sich so auch die Jahrhunderte alte Konkurrenz zwischen Staat und Kirche um Macht und Strafgewalt. Das erklärt die scharfen Töne.

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