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Im BLICK: Späte Gerechtigkeit

Der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk hat erneut vor Augen geführt, dass Weltkrieg und Naziterror näher sind als die Nachgeborenen oft wahrnehmen. Noch leben Opfer und Täter, ist die juristische Aufarbeitung der Schrecken von einst also möglich.

Der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk hat erneut vor Augen geführt, dass Weltkrieg und Naziterror näher sind als die Nachgeborenen oft wahrnehmen. Noch leben Opfer und Täter, ist die juristische Aufarbeitung der Schrecken von einst also möglich. Und das Urteil von München hat diese Möglichkeiten sogar vergrößert. In Zukunft steht die Beweisführung gegen NS-Täter womöglich nicht mehr vor Hürden, die von Jahr zu Jahr größer bis unüberwindlich werden: Der Tod von Zeugen, die Unmöglichkeit, nach Jahrzehnten noch Morde zu beweisen. Im Falle Demjanjuk genügte seine Rolle als Wachmann in Sobibor, einem Vernichtungslager. Das bereits wertete das Gericht als Beihilfe zum Mord.

Hoffnung auf späte Gerechtigkeit haben damit nicht zuletzt die Überlebenden und Angehörigen der Opfer jener zahllosen Massaker, die SS und Wehrmacht im besetzten Italien 1943 bis 1945 begingen. Ihre Geschichte und die ihrer Aufarbeitung nach 1945 ist in mehrfacher Weise deprimierend. Von Hitlers Horden ähnlich grausam drangsaliert wie die slawischen „Untermenschen“ im Osten, blieben die meisten Versuche nach dem Krieg, diese Verbrechen zu sühnen, in einem Gestrüpp widerstreitender Interessen stecken. Der Politik beider Länder, in EU und Nato vereint, lag wenig an unangenehmen Erinnerungen; Italien musste noch dazu fürchten, dass auch Licht auf eigene Untaten in Griechenland, Libyen und Albanien unter Mussolini fallen würde. Und die deutsche Öffentlichkeit – und Justiz? – war nicht bereit zu sehen, dass Deutsche auch in Italien, dem Sehnsuchtsland von Bildungsbürgern wie Massentouristen, 20 Monate lang eine sehr breite Blutspur gezogen hatten. So blieb etwa ein früherer Wehrmachtsleutnant ohne Strafe, der 1943 im Flecken Caiazzo vier Bauernfamilien massakriert hatte. In völliger Verkennung des systematischen Charakters solcher Verbrechen urteilte der Bundesgerichtshof 1995, dass derlei auch von der Wehrmachtsjustiz verfolgt worden wäre – womit die Morde als verjährt galten.

Auf 9180 italienische Kinder, Frauen und Männer beziffert der Freiburger Militärhistoriker Gerhard Schreiber die Zahl allein der massakrierten italienischen Zivilisten. Die Hoffnung, dass wenigstens einige dieser Verbrechen noch vor Gericht kommen, hat vor dem Demjanjuk-Verfahren ein anderer Münchner Prozess begründet. Josef Scheungraber, einst Kompaniechef eines Gebirgsjägerbataillons, erhielt 2009 wegen Mordes an zehn Zivilisten im toskanischen Falzano di Cortona lebenslänglich. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil und korrigierte implizit die eigene jahrzehntelange Rechtsprechung: Scheungraber könne seine Schuld nicht hinter angeblichen Kriegsnotwendigkeiten verstecken.

Eine späte Wende scheint eingeleitet. So wäre jetzt ein Verfahren um das Massaker von Sant’Anna di Stazzema von 1944 möglich. Seit 2002 ermitteln Stuttgarter Staatsanwälte ergebnislos, weil sie keinen Beweis individueller Schuld an den 560 Morden haben. Und die deutsche Justiz könnte die italienischen Urteile gegen noch lebende Täter vollstrecken. Doch dies müsste Italiens Justizminister beantragen. Aber Angelino Alfano, ein Mann Berlusconis, verweigert die Unterschrift.

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