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Politik: Immer noch stören harte Fakten die politische Benutzeroberfläche

Die Politik ist immer noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.

Die Politik ist immer noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Nicht diese oder jene, rote, schwarze oder grüne, sondern deutsche Politik. Sie riecht noch nach Schweiß, sie hört nicht auf, handfeste Entscheidungen zu treffen, sie produziert Gesetze, wie weiland die Kokereien Koks herstellten. Man sieht es rauchen, stampfen, köcheln, zischen. Es ist furchtbar real und auf fast unhygienische Weise wirklich.

Zugegeben, minimale Fortschritte sind zu verzeichnen: Die Berliner Event-Kultur blüht, Symbolpolitik triumphiert, Homestories von Prominenten nehmen zu, die Fitness-Bücher der Minister verkaufen sich blendend, und Guido Westerwelle legt sich sogar brav in eine venezianische Gondel, wenn der Fotograf es will. Doch immer wieder durchstoßen harte Fakten die gefällige Benutzeroberfläche des Politischen, der qualitative Sprung zur Cyber-Politik bleibt aus.

Immerhin gab das vergangene Wochenende gleich doppelt Anlass zu den allergrößten Hoffnungen, dass sich auch in unserem rückständigen Land endlich die Politiker von der Politik befreien, die Entscheidungsträger von den Entscheidungen und die Journalisten von den Fakten. Cyber-Politik, Fall eins: Das Bündnis für Arbeit feierte einen Durchbruch. Hurra, genauer: Yahoo! Das Bündnis wurde einst gegründet, weil es in Deutschland seit sehr langer Zeit sehr viele Arbeitslose gibt. Und wenn man dieses Problem dem Selbstlauf der Tarifparteien überlässt, dann wird es nicht gelöst. Darum holte der Kanzler die Tarifpartner an einen Tisch. Und nun endlich haben wir ein Ergebnis: Das Problem wird den Tarifparteien überlassen. Früher, im tiefsten 20. Jahrhundert, hätte man das ein Scheitern genannt. Und nun? Nun ist das ein Durchbruch. Bravo: Sie haben Level 1 erfolgreich absolviert, drücken Sie die Taste "Select" und rücken Sie vor auf das nächste Level.

Cyber-Politik, Fall zwei: Klausurtagung der CDU in Norderstedt. Eine Zeitung, die nur sonntags erscheint, dann aber heftig, handelte im Vorfeld an der Gerüchtebörse mit der Option auf eine Information. Dabei ging es ungefähr darum, dass der wütende Helmut Kohl seinem Nachfolger im Partei-Vorsitz signalisieren wollte, dass er auch nicht ganz wehrlos sei. Dieser Optionenhandel löste bei der grundseriösen "Süddeutschen Zeitung" die Absicht aus, einen Artikel zu verfassen, der besagt, dass Helmut Kohl Jürgen Rüttgers im April gegen Wolfgang Schäuble ins Gefecht um den Parteivorsitz schicken möchte. Mit der Option auf diesen Artikel ging die stellvertretende CDU-Vorsitzende Annette Schavan in die Präsidiumssitzung der CDU und teilte mit, was die Zeitungen zu berichten beabsichtigten. Kurz darauf dementierten Kohl, Rüttgers und Schäuble das Gerücht. Dessen unbeschadet erschienen verschiedene Zeitungen, auch unsere, mit der Schlagzeile, Rüttgers solle gegen Schäuble antreten - angeblich.

Bis hierhin handelt es sich vielleicht noch um eine altmodische Ente, die aus dem vergangenen Jahrhundert in unsere virtuelle Welt hinüber gewatschelt ist. Richtig cybermäßig wurde der Vorgang erst, als die Sonntagszeitung, die mit der Informationsoption, die vermeintliche Fronde gegen Schäuble vermeldete und als Beweis anführte, "sogar" Annette Schavan habe in, jawohl: in der Präsidiumssitzung von der Intrige geraunt - geraunt! Tatsächlich raunte sie nur von einem Artikel, dessen Kern falsch war.

Zum guten Schluss verfasste die Sonntagszeitung einen Kommentar. Darin kritisierte sie, dass die CDU zwar Sachpolitik in den Vordergrund stellen wollte, in der Öffentlichkeit jedoch wieder nur Intrigen und Gerüchte rübergekommen seien. Ein Versagen der CDU-Führung, kein Zweifel. Level zwei erfolgreich beendet. Bitte gehen Sie weiter zu Level drei.

Oder aber, wir, die Zeitungen, beruhigen uns langsam wieder. Schließlich ist unser Krieg nur virtuell.

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