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Politik: In der Flut der Gefühle

AUFBAU OST VERNICHTET?

Von Gerd Appenzeller

Gestern sollte Bitterfeld evakuiert werden, viele der 16000 Einwohner sind von den Fluten der Hochwasser führenden Mulde akut bedroht. Bitterfeld – das war in SED-Zeiten Synonym für Umweltzerstörung und die potemkinsche Scheinwelt der DDR. Bitterfeld– das stand nach der Wende symbolhaft dafür, dass die Wiedergeburt Ostdeutschlands, dass ein Neubeginn möglich ist. Wenn die Menschen nun Bitterfeld verlassen müssen – ist das ein Menetekel, das Zeichen an der Wand, dass ein Jahrzehnt Aufbau umsonst war, der Osten zurückgeworfen worden ist auf die Stunde Null der Wende?

Ja, die Bilder sind furchtbar. Das verwüstete Grimma, die historische Innenstadt Dresdens meterhoch unter Wasser, bedrohte Kunstschätze, vernichtete Existenzen, eingerissene Brücken, hinweggespülte Straßen. Und vor allem: Weinende und resignierende Menschen, die völlig verzweifelt sind. Ja, die Flutkatastrophe trifft den deutschen Osten zu einem Zeitpunkt, zu dem der Glaube an die Kraft des Menschen und seine Fähigkeit, Krisen zu überwinden, ohnedies tief erschüttert sind. Die Wirtschaft stagniert seit einem halben Jahrzehnt, die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie vor zehn Jahren. Kredite für den Aufbau kleiner Geschäfte erst zum kleinen Teil getilgt, von finanziellen Rücklagen für schlechte Zeiten keine Spur. Im Gegenteil, gespart wurde an allen Ecken bei den mittelständischen Existenzgründern, oft auch noch an den Versicherungen. Und nun das.

Auch in Passau und Regensburg waren die Innenstädte überflutet. Die Rheinanlieger, diesmal verschont, haben es gelernt, mit extremen Wasserständen zu leben. Im bayerischen Überschwemmungsgebiet war in den letzten Tagen die Bitterkeit der Menschen sicher nicht geringer als am Rande des Erzgebirges. Aber wer in vergleichsweise gesicherten Lebensverhältnissen von solchen Heimsuchungen getroffen wird, kann anders reagieren als der Mitbürger, für den eine grundstürzende Umwälzung der Verhältnisse gerade erst wenige Jahre zurück liegt, in dessen Leben sich noch nicht das Fundament neu bilden konnte, auf dem man gelassener bleiben kann.

Nichts wäre schlimmer, als wenn sich im Osten jetzt nach diesem Jahrhunderthochwasser und seinen Zerstörungen tatsächlich das ohnedies latent vorhandene Gefühl noch verstärken würde, man sei eigentlich ohne Chance im vereinten Deutschland. Die Politik, die dem durch massive und schnelle Präsenz entgegensteuert, ist gut beraten. Erst, wer das Ausmaß der Verwüstungen gesehen hat, ist ein Betroffener. Und betroffen muss die Politik auf Bundes- und Landesebene jetzt sofort reagieren.

Das Hochwasser hat an manchen Orten die Aufbauarbeit eines Jahrzehnts zerstört – aber nicht überall in der einstigen DDR. Die Vernichtung von Aufbauarbeit bildete sich nicht nur durch gerade erst aufwändig restaurierte und nun überschwemmte Kirchen und Baudenkmäler ab – die wird man ein zweites Mal der Denkmalpflege überantworten dürfen. Viel schlimmer ist die Zerstörung im Kleinen, direkt bei den Bürgern, auf deren Leid im Regelfall nicht das Auge des bewahrenden Staates fällt. Sie brauchen Hilfe, brauchen jenen Akt der nationalen Solidarität, von dem der Kanzler sprach. Ob man den Solidarpakt II vorziehen muss, dessen Hilfen erst ab 2005 greifen sollten, oder ob es andere Wege der großzügigen Unterstützung gibt, darf nicht zum dummen Streitpunkt werden.

Die Bürger Bitterfelds werden bald in ihre Stadt zurückkehren dürfen. Die Nation wird ihnen, falls nötig, beim Wiederaufbau helfen, wie sie den Menschen nach der Oderflut vor fünf Jahren half. Der Solidarpakt funktioniert nämlich, auch wenn man ihn nicht immer so nennt.

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