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Unverhoffte Hoffnung.

© dapd

In der Krise: Junge Griechen geben die Hoffnung nicht auf

Fast ist es wie in der antiken Tragödie: Was auch geschieht, es wird zum Verhängnis. Dabei geht es bei der heutigen Wahl in Griechenland um alles. Der Bericht aus einem verzweifelten Land – und von einer Gruppe junger Leute, die sich noch nicht aufgegeben haben.

Als sie zum letzten Mal dachten, dass alles schlimmer kaum werden könnte, stiegen sie aufs Dach. Das heißt, sie schickten einen, der gut klettern kann. Die unten standen, passten auf, dass keiner kam und guckte. Über eine Feuertreppe und einen Notausgang gelangte er in das große Gebäude. Dann öffnete er ihnen eine Tür.

Das Gebäude steht mitten im Athener Stadtteil Psyrri. Es ist so groß, dass es kaum zu übersehen ist und so traurig und verkommen, dass es trotzdem nicht auffällt. Viele der Fenster sind blind, die Fassade ist blass und mit Graffiti übersät. Es war einmal ein Theater.

Die sieben Künstler des Athener Kollektivs „Mavili“ besetzten das Theater am 11. 11. 2011. Sie schrieben ein Manifest, in dem sie sich erklärten: Sie wünschten, die Besetzung möge eine Botschaft sein in Zeiten der Krise. Es ging ihnen nicht um Wohnraum, denn den hatten sie. Es ging um einen neuen Raum für neue Gedanken, um Kunst, um einen Ort, der vergessen war von Staat und Gesellschaft, ein Vakuum, das gefüllt werden konnte mit Aktion.

Irgendwas muss doch getan werden.

Hinter einer Schiebetür öffnet sich der Theaterraum in der hellen Nachmittagssonne wie ein schwarzes Loch. Links die Bühne, schwarze Bretter, rechts der Zuschauerraum, mit Stühlen für fast 300 Besucher. Spärliches Licht. Auf den Stühlen der ersten Reihe liegt ein Laptop, über die Bühne laufen zwei Dutzend Menschen hin und her. Probe im Embros-Theater, die Bretter der kleinen Bühne knarzen.

Die große Bühne liegt still – das griechische Parlament am Syntagma-Platz, nicht weit vom Theater in Psyrri entfernt, zwölf zügige Gehminuten vielleicht. Es ist der erste Montag im Juni, die letzten Wahlen in Griechenland liegen genau einen Monat zurück. Sie zeigten das Bild eines zerrissenen Landes, das nicht ein weiß noch aus. Die Akteure, schien es, redeten miteinander und doch aneinander vorbei. Eine Regierung kam nicht zustande. Die Vorstellung, so kann man sagen, sie wurde abgebrochen.

So scheiterten die Koalitionsgespräche:

„Das alles ist eine viel größere Sache geworden, als wir anfangs gedacht haben“, sagt Gigi Argyropoulou. Strahlend steht sie im Embros vor den Probenden, eine kleine Person im gelben Kleid und mit blondem Haar. Argyropoulou ist 33 Jahre alt, Schauspielerin und Performance-Künstlerin. Sie ist Teil des „Mavili“-Kollektivs, und wenn sie von der „großen Sache“ spricht, dann meint sie selbstverständlich die Besetzung des Theaters und nicht das Desaster, in dem ihr Land gerade steckt. Wobei mit Recht auch das zu sagen wäre.

Die Besetzung sollte ein elftägiger Ausnahmezustand sein. Doch der hält an. Im Embros Theater und in ganz Griechenland.

„Wir sind am Nullpunkt angekommen“, sagt Gigi Argyropoulou und diesmal meint sie ihr Land.

In den Straßen gibt es nur noch ein Thema: Die Wahl am Sonntag.

„Wir sind am Nullpunkt angekommen“, sagt Gigi Argyropoulou vom Theaterkollektiv „Mavili“. Und trotzdem glaubt sie, dass die Krise etwas Positives hat.
„Wir sind am Nullpunkt angekommen“, sagt Gigi Argyropoulou vom Theaterkollektiv „Mavili“. Und trotzdem glaubt sie, dass die Krise etwas Positives hat.

© Reimann

Eine Regierung gibt es seit Wochen nicht, und die Strukturreformen, die sich der Rest Europas so dringend wünscht, die kommen deswegen natürlich auch nicht voran. Politiker, die dieser Tage, so kurz vor der entscheidenden Wahl am heutigen Sonntag, Zeit haben zu sprechen, analysieren immer und immer wieder bestehende Fehler – ein unzuverlässiges Steuersystem, schleppend langsame Bürokratie, zu wenige exportorientierte Unternehmen. Einen konkreten Plan für die Zukunft haben sie trotzdem nicht.

Theoretische Lösungen, über die sie reden, funktionierten, wenn die Wirtschaft des Landes wüchse oder mindestens stabil wäre. Aber Griechenlands Wirtschaft wächst nicht, sie schrumpft.

Die Task Force der Europäischen Union, die sich monatelang um das Land bemühte, Statistiken überprüfte, Empfehlungen gab, war nicht erfolgreich. Einer, der mit ihrer Arbeit vertraut ist, sagt: „Wir befinden uns in einer wirklich schrecklichen Situation.“ Er sagt auch: „Der Euro hat Griechenland ruiniert.“ Und: „Ich weiß nicht, wie wir da wieder herauskommen.“ Ein anderer sagt, Europas Programm, Griechenland zu retten, bestrafe das Land.

So fühlen sich viele. Bestraft. Verlacht. Die Verletzung wiegt so schwer wie die Krise.

Aus der Währungsunion austreten, daran denken sie in Griechenland offiziell nicht. Nicht die konservativen Parteien und nicht die neu erstarkten Linken. Rausjagen, darauf verlassen sie sich, könne man sie nicht. In Brüssel kursiert derweil ein neues Wort: „Grexit“, Greek Exit, der griechische Ausstieg. Es wäre das dramatische Ende, die Griechen so unglückselig verrannt in ihr Schicksal wie ihre antiken Tragödienhelden.

„Glauben Sie uns, wir bekommen das hin“, sagt Giorgos Papanikolaou, Europa-Abgeordneter und Mitglied der konservativen Nea Dimokratia. Ja wenn es nur an ihm läge! „Wir müssen uns ändern“, sagt er. Aber wie will er ein ganzes Land ändern, dessen Beamten, die politische Klasse – in wenigen Tagen? Er setzt auf Verhandlungen nach der Wahl.

Sonntag, der 17. Juni. Gedacht wird erst einmal bis dahin. Und in den Straßen kennen sie kein anderes Thema mehr.

VIDEO: Eklat in griechischer Talkshow

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Die Menschen sorgen sich. Oder sie sind wütend. Über ihre Köpfe hinweg wird verhandelt, als wären sie unselbstständige Kinder. Schlimm genug, dass die eigene politische Klasse macht, was sie will. Schlimmer noch, dass ihr Land abhängig geworden ist vom guten Willen anderer, Reicherer, vermeintlich Besserer. Von Brüssel, von den Franzosen, den Deutschen, von Angela Merkel.

Vor der großen Bühne der Politik sind die Griechen Zuschauer. Unzufriedene Zuschauer. Sie pfeifen nicht, sie wählen extrem. Rechts, links. Dass das linksradikale Bündnis Syriza die heutigen Wahlen gewinnen wird, gilt als wahrscheinlich. Seit dem 3. Mai mischen auch die Rechtsextremen der Partei „Goldene Morgenröte“ mit. „Schrecklich!“, sagen jene, die man dazu befragt. Doch auch diese Partei fand ihre Wähler. Was ist nur passiert?

In einer Fernseh-Talkshow ging jüngst der Kandidat der Rechten auf die Konkurrenz los. Der kommunistischen Abgeordneten schleuderte er das Wasser aus seinem Glas ins Gesicht, die Kollegin der Syriza ohrfeigte er. Die Sendung wurde unterbrochen. Vorhang.

In den Suppenküchen essen in der Mittagspause Banker mit Laptop.

„Was kann ich tun?“, haben schon viele Gigi Argyropoulou gefragt. „Komm einfach“, hat sie geantwortet. Tu einfach irgendetwas, vielleicht reicht das schon. „In der Krise“, sagt sie, „denkst du an das, was du tun kannst, nicht immer an das, was getan werden sollte.“

Sie und ihre Kollegen wollten an die Oberfläche holen, was in den vergangenen Jahren untergegangen war und was ihnen fehlte mitten in der Stadt, der inzwischen anzusehen ist, dass sie Sorgen hat. Viele Häuser im Zentrum verfallen. Das „Mavili“-Kollektiv fand zwischen ihnen die Kunst und holte sie wieder auf eine Bühne. Im vergangenen November brachten sie erstmals Künstler unterschiedlichster Sparten zusammen, renommierte und unbekannte. Der Zuspruch war riesig, deswegen hörten sie nach dem Anfangsprojekt nicht auf, sondern machten weiter. „Lebendiges Archiv“ nannten sie das, was entstand.

Auch in der vergangenen Woche fanden wieder Vorführungen und Workshops statt, bis zum Tag der Wahl. Das Motto lautete „Celebrations“, Feierlichkeiten. Es sollte ergründet werden, wie die Griechen wurden, was sie sind – und ob es noch etwas zu feiern geben kann.

Argyropoulou steht nun im Obergeschoss des Theaters. Die Wochen, nachdem sie zum ersten Mal in das Gebäude eingedrungen waren, verbrachten die Künstler mit Aufräumen. Das Theater hatte schon lange leer gestanden, einige Räume sind nun neu gestrichen. In Regalen liegen Requisiten und Staub, zwischen weiß getünchten künstlichen Pflanzen sieht Gigi Argyropoulou in ihrem Sommerkleid aus wie eine froh gestimmte Elfe. In einem Zimmer steht auch ein Bett. Falls doch mal jemand unterkommen muss.

Eine junge Frau mit wilden Locken räumt auf, raucht, räumt auf. Am Abend zuvor fand im Obergeschoss eine Aufführung statt, Stühle sind noch aufgereiht, auf dem Boden liegen hölzerne Platten, alte Polstersessel stehen in dunklen Ecken. Der Raum blieb Raum und war doch gleichzeitig Bühne.

Im Embros schaut das Publikum nicht nur zu, jedenfalls nicht immer. Es ist Teil der Inszenierung. Kunst gibt es dieser Tage in Athen für Obst, für einen Kuchen, für eine kleine Spende. In den Suppenküchen der Stadt, das erzählt Lefteris Skiadas aus der Stadtverwaltung, essen in ihren Mittagspausen Banker mit Laptop. Die Arbeitslosenquote im Land liegt bei mehr als 20 Prozent. Etwa 5000 Menschen, sagt Skiadas, lebten inzwischen in besetzten Häusern. Die Zahl der Obdachlosen steige, wenn auch niemand genau wisse, wie viele es wirklich seien.

Gigi Argyropoulou meint, dass die Krise vielleicht auch etwas Positives hat. Weil sich die Menschen auf das Wesentliche besinnen müssen, auf Familien und Freunde; weil alle zusammenarbeiten und sich helfen. „Die Gesellschaft verändert sich“, sagt Argyropoulou. Sie glaubt: zum Guten.

Derweil treibt die Armut im Land Menschen in den Selbstmord. Die Geschichte des Rentners, der sich auf dem Syntagma-Platz im Zentrum Athens erschoss, schaffte es bis in die internationalen Medien. Es ist nicht die einzige. Kürzlich, heißt es, stürzte einer die eigene Mutter vom Hausdach – und sprang hinterher. Die niedrigste Rente im Land liegt derzeit bei 269 Euro im Monat, doch die Preise für Lebensmittel sind nicht weniger hoch als in Deutschland. Es gibt Rentner, die zum Ernährer der erweiterten Familie geworden sind, die mit fast 80 Jahren und ein paar hundert Euro die Familie des Sohnes finanzieren, die der Tochter, das Studium der Enkelin.

Es gibt aber auch die reichen Griechen, die ihr Geld ins Ausland schaffen und dort anlegen, in Immobilien zum Beispiel. Hunderte Milliarden Euro sollen das sein.

Gigi Argyropoulou hat daran gedacht, Griechenland zu verlassen. Sie schreibt eine Doktorarbeit, und die Universität, an der sie studiert, liegt in Großbritannien. Es wäre ein Leichtes, einfach dort zu leben. Aber dann hat sie es doch nicht über sich gebracht, zu gehen.

Unten im Theater, in einem Raum hinter der Bühne, kleben große Buchstaben einer Installation an der Wand. Im Dunkeln sollen sie leuchten. „Being is made in the event“, steht dort. Vielleicht ist das Embros-Theater und alles, was dort geschieht, die beste Übersetzung. Griechenland hat sich noch nicht aufgegeben.

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