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Politik: In Europa nur noch unterer Durchschnitt - UN-Zahlen über Flüchtlingsaufnahme widerlegen deutsche Vorreiterrolle

Menschenrechtler, Asylorganisationen, Flüchtlingsorganisationen, aber auch Kirchen, Parteifreunde und Politiker des Koalitionspartners Bündnis/90 die Grünen kritisieren mit zunehmender Schärfe die Asylpolitik von Innenminister Otto Schily (SPD). Reinhard Bütikofer, der Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, sagt in einem Interview der neuesten Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit", wer vom deutschen Asylrecht Abstand nehme, beschreite einen "gefährlichen Weg".

Menschenrechtler, Asylorganisationen, Flüchtlingsorganisationen, aber auch Kirchen, Parteifreunde und Politiker des Koalitionspartners Bündnis/90 die Grünen kritisieren mit zunehmender Schärfe die Asylpolitik von Innenminister Otto Schily (SPD). Reinhard Bütikofer, der Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, sagt in einem Interview der neuesten Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit", wer vom deutschen Asylrecht Abstand nehme, beschreite einen "gefährlichen Weg". Der Innenminister stelle mit seinen Äußerungen das demokratische Selbstverständnis Deutschlands infrage. Schily hatte seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass das subjektive Recht auf Asyl, das der Artikel 16a Grundgesetz Verfolgten gewähre, auf europäischer Ebene in Zukunft keinen Bestand mehr haben werde. Ebenso hatte Schily die Auffassung geäußert, nur drei Prozent aller Asylbewerber seien tatsächlich Verfolgte, der Rest seien Wirtschaftsflüchtlinge.

Der Nachfolger von Manfred Kanther (CDU) im Amt des Innenministers steht in der Regierung alleine da mit seinen Darstellungen der politischen und statistischen Fakten. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, distanzierte sich vom Innenminister. Den Unmut zahlreicher Fraktionskollegen bündelte er in der Feststellung, mit der SPD werde es "keine substanzielle Veränderung" des Asylrechtes geben. Auch im Justizministerium, so war gestern zu vernehmen, wachse der Unmut über Schilys "unmögliche Art, mit dem Asylrecht umzuspringen".

Der Vertreter des Hochkommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), Noel Wetterwald, widerspricht Schilys Deutung sowohl der Asylzahlen als auch der Genfer Kommission mit deutlichen Worten. In der "Frankfurter Rundschau" trat er der Auffassung Schilys entgegen, die meisten Flüchtlinge - siehe Kosovo und Bosnien - seien Wirtschaftsflüchtlinge: "Wenn man die deutsche Asylstatistik studiert, sieht man, dass die meisten Flüchtlinge aus Ländern mit großen Menschenrechtsproblemen kommen." Wetterwald korrigierte sowohl in der "Frankfurter Rundschau" als auch in der "Zeit" Schilys Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention. "Die Genfer Flüchtlingskonvention manifestiert den Übergang des Asylrechts vom staatlichen Gnadenakt hin zum individuellen Schutzanspruch. Wer die Konvention unterzeichnet, verpflichtet sich zugleich, keine Ausländer dorthin abzuschieben oder zurückzuweisen, wo ihnen religiös, ethnisch, nationalistisch oder politisch motivierte Verfolgung droht."

Schily hatte in mehreren Interviews ohne Absprache mit dem Koalitionspartner oder der SPD-Fraktion im Bundestag erklärt, nicht jede Wohltat, die der Staat einräume, dürfe einklagbar sein, womit er das Asylrecht beziehungsweise die Flüchtlinge meinte. Wetterwald hingegen forderte die Bundesregierung jetzt auf, für einen "besseren Flüchtlingsschutz in der Bundesrepublik" zu sorgen. Im Gegensatz zum Gros der EU-Staaten erkennt die Bundesrepublik nämlich nicht-staatlich verfolgte oder von Folter bedrohte Menschen nicht als Flüchtlinge an.

Wie Reinhard Bütikofer sieht auch die Fraktionschefin der Grünen, Kerstin Müller, die Grenzen der Belastbarkeit der Koalition auf diesem rot-grünen Streitgebiet nähergerückt. Schily verlasse die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, sagte sie und wertete die Vorstellungen Schilys als einen "Frontalangriff auf die Flüchtlinge".

Auch die Ausländerbeauftrage des Bundes, Marieluise Beck (Bündnis90/Die Grünen) wie die des Landes Brandenburg, Almuth Berger, widersprachen vehement Schilys Vorstellungen, Deutschland müsse im europäischen Rahmen den Asylschutz abbauen. Beck sagte der "Süddeutschen Zeitung": "Im Gegenteil. Bei der EU-Konferenz ist der Anspruch auf Schutz festgelegt worden; es wurde bekräftigt, dass die Genfer Flüchtlingskonvention unmissverständlich gilt - und Deutschland hat daher sogar noch Hausaufgaben zu machen." Darüber hinaus betonte die Ausländerbeauftragte, dass die Genfer Flüchtlingskonvention, genauso wie der Artikel 16a Grundgesetz, einen individuellen Anspruch auf Asyl garantiere. Berger bezeichnete Schilys Argumentation als "gefährlich". Er laufe Gefahr, in der Bevölkerung ein Bild von Ausländern zu fördern, das die Menschen kriminalisiere und als bloße Wirtschaftsflüchtlinge hinstelle. Berger fordert Schily auf, mit "sauberen Fakten" zu argumentieren.

Nach der Statistik des UNHCR sind die Zeiten vorbei, da die Bundesrepublik gemessen an ihrer Bevölkerung die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Vielmehr liegt sie nun im unteren Mittelfeld Europas. Rund 28 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, finden noch den Weg nach Deutschland. Gleichzeitig sind die Asylbewerberzahlen in Deutschland mittlerweile stark zurückgegangen, nicht zuletzt wegen der hohen Hürden, die die Bundesrepublik in den Begleitgesetzen zum Artikel 16 Asylbewerbern setzt. So haben Flüchtlinge, die auf dem Landweg nach Deutschland kommen, inzwischen kaum noch eine Chance auf Anerkennung.

Rüdiger Scheidges

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