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Politik: In Nahaufnahme

Von Peter von Becker

Auf den Tag vor einem Jahr bebte die Erde bereits mit tausenden Toten, fernweg im iranischen Bam. Geografisch liegt Südostasien noch ferner, doch die jüngste Katastrophe dort scheint uns gespenstisch näher, geht uns nun heftiger an. Natürlich hat das mit den begehrten Feriengebieten zu tun und noch mehr mit den vielen, bis heute kaum zählbaren Opfern auch unter deutschen Touristen. Die Sintflut hat, wo nicht nach Angehörigen, so doch nach Mitbürgern gegriffen. Das verstärkt das Mitgefühl.

An diesem Punkt freilich spürt mancher auch einen Anflug von Unbehagen. Denn haben nicht scharfe, emphatische Geister wie die indische Erfolgsautorin Arundhati Roy oder die am Dienstag verstorbene Susan Sontag, Amerikas intellektuelles Gewissen, dem Westen nach dem 11. September 2001 mit Leidenschaft vorgeworfen, dass für ihn dreitausend Tote in New York „mehr“ zählten als Hunderttausende oder Millionen leidende und sterbende Menschen in der so genannten Dritten Welt? Hinausblickend über diese – moralisch in jedem Falle anfechtbare – Aufrechnung von Opfern, fragt Susan Sontag in ihrem letzten Buch „Das Leid anderer betrachten“ nach den Zusammenhängen von KatastrophenBildern und unserer Anteilnahme am fremden Leid und seinen Ursachen.

Der Tod übersteigt, fast immer, die Vorstellung der Lebenden. Umso mehr, wenn er als ferne, unermessliche Horrorzahl erscheint. Das Konkreteste, für den Augenblick Erschütterndste sind dagegen die Bilder von Opfern und Trauernden, die um die Welt gehen. Susan Sontag allerdings warnt (in einer Tradition mit dem frühen Medien-Philosophen Walter Benjamin), dass Bilder ohne Worte, ohne Erklärung fast immer missbrauchbar, missdeutbar sind. Was wir sehen, soll darum durchschaubar sein.

Das Leid anderer betrachtend, droht der Blick indes durch die Opfer hindurchzugehen. Dass wir Voyeure sind, gehört von Anfang an zur bildenden Kunst, zum Journalismus, zur menschlichen Natur und Neugierde. Ohne Zeigen und Sehen in Bildern und Worten keine Zeugenschaft, kein Mitwissen und Mitgefühl, keine Aufklärung oder Erinnerung. Trotzdem fragt man sich, ob Menschen in jeder Situation von Kameras und Mikrophonen bedrängt werden müssen. Entsetzlicher als die Bilder der Getöteten sind mitunter die Nahaufnahmen des indischen Fischers oder der indonesischen Bäuerin, die gerade ihre Kinder, ihren Partner, ihre Mutter beweinen. Oder das: Am Dienstagabend sahen wir einen deutschen Urlauber, der dem deutschen Reporter erzählte, dass sein zehnjähriger Sohn von der Flut weggespült wurde; er sei „der Sache“ nicht gewachsen gewesen. Der Sache.

Das verrät, dass Menschen in höchster Not schon keine Worte mehr finden, wenn die Bilder plötzlich keine medialen Botschaften mehr sind, kein Wirklichkeitsersatz – sondern die Realität schrecklich in die eigene, eingebildete Sicherheit bricht. Nicht dass das Medium zur Botschaft wird, ist ja die Gefahr, sondern dass die mediale Botschaft zum Ersatz des Realen wird. Politiker, die heute Krieg führen, reden inzwischen vor Fernsehkameras kaum mehr von den unmittelbaren Opfern und Leiden des Krieges, sondern von ihrer Besorgnis über „die Bilder“, die davon in die Welt gehen und das eigene Image bestimmen. Das wäre die neue Selbstentfremdung des Menschen.

Die Kehrseite solcher Gefahr aber ist der schiere Gewinn. Ohne die modernen Kommunikationstechniken bliebe das Ferne noch fremder, und man könnte wie Goethes Bürger im „Faust“ noch mit sicherem Behagen sagen, was geht’s uns an, „wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen“. Das ist vorbei. Wenn Menschenrechte massiv verletzt werden oder wenn Naturkatastrophen daran erinnern, dass dieser Planet unser einziger, sehr verletzlicher Ort ist, dann wächst mit der Globalisierung der Bilder und Berichte auch die universelle Verantwortung. Der Indische Ozean ist ein Weltmeer, keine andere Welt mehr.Wenn aus symbolischem Mitleid dann reale, materielle Mithilfe wird, hat uns zumindest diese Botschaft des Jahres erreicht.

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