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Politik: In Ostdeutschland leben: Das ist, im zehnten Jahr der Einheit, für viele Westler immer noch ein Graus

Sie könnten jetzt gehen. Er könnte sich mit seinen guten Zeugnissen in den alten Bundesländern bewerben.

Sie könnten jetzt gehen. Er könnte sich mit seinen guten Zeugnissen in den alten Bundesländern bewerben. Und zusammen könnten sie irgendwo in die Nähe ihrer Verwandten ziehen, die Kinder in westdeutsche Kindergärten schicken, sie mit anderen westdeutschen Kindern aufwachsen lassen. Denn sie müssen doch zurück. Das finden jedenfalls die Freunde, die alten Kommilitonen und auch die Jungs von der schlagenden Verbindung, die einst bei ihrer Hochzeit dabei waren. Aber sie wollen gar nicht zurück. Sie fühlen sich wohl im Osten. Doch das wiederum glaubt ihnen keiner.

Ihre Freunde und Bekannten sagen, dass man im Osten nicht leben kann, die Zeit dort sei bloß "so eine Phase". Dieses Wort haben sie schon oft gehört. Am hartnäckigsten sind sie in der eigenen Familie. "Ja, ja", sagen sie immer, wenn die beiden erklären, dass es ihnen gut geht. Weil sie es allerdings leid sind, sich ständig zu rechtfertigen, fahren sie kaum noch in den Westen. Das endet sowieso immer damit, dass sie sich und die Ostdeutschen verteidigen. Und in solchen Momenten klingen die beiden dann wie "Ossis", wie gelernte Ostdeutsche. Sie reden von der Gemeinsamkeit, dem Zusammenhalt der Menschen und den arroganten und bornierten Wessis. Als hätten sie jahrelang gemeinsam Schlange gestanden.

Warum geht ihr nicht wenigstens nach Potsdam?, heißt es in der Familie. Potsdam ist näher am Westen und deshalb nicht so schlimm, soll das heißen. Und manchmal, wenn wieder stundenlang mit mitleidigen Blicken auf sie eingeredet wurde, fangen sie selbst an zu grübeln. Vielleicht machen sie wirklich etwas falsch. Aber ihnen fällt nichts ein. Die Kinder, die Wohnung, die Arbeit - alles bestens. Nur am richtigen Ort scheinen sie nicht zu sein. Er hätte sich einmal schon fast weich klopfen lassen, aber sie will nicht weg.

Beide sind Juristen. Katja Isenberg-Sörries ist Rechtsanwältin, ihr Mann Joachim ist Staatsanwalt. Sie hat ein weiches Gesicht, die Haare mit vielen Klammern hochgesteckt. Er ist ein großer, athletischer Typ mit breiten Schultern und Mensuren an der Wange, vom Fechten. Die beiden gehören zum zweiten Schwung der Wessis, die in den Osten zogen. Die ersten kamen direkt nach der Wende. Das Ehepaar Sörries zog im Mai 1995 nach Frankfurt an der Oder. Er hatte sich damals fast überall beworben, und die Brandenburger meldeten sich als Erste. Sie hatten sogar die Wahl: Frankfurt oder Cottbus? Aus einer Laune heraus entschieden sie sich für Frankfurt. "Die schrecklichste Stadt Deutschlands", sagt er und grinst, als wäre der Titel eine Auszeichnung. Aber eigentlich verletzt er ihn.

Was sie sich schon alles anhören mussten! Schlecht für die Kinder, schlechte Schulen, schlechter Umgang. Und am Anfang kam es ihnen tatsächlich vor wie ein fremdes Land. Sie benahmen sich wie ihre Freunde. In der ersten Nacht im Hotel bestanden sie auf einer Garage und hatten sich extra eine Wegfahrsperre angeschafft. Wegen der Nähe zu Polen, und was man eben so liest. Aber Essen können wir dort genauso kaufen wie im Westen, beruhigten sie sich.

Abhörkabel in der Wohnung

Fünf Jahre ist das nun her. Ihre erste Wohnung war in einem Plattenbau: 70 Quadratmeter im sechsten Stock. Sie wussten ja nicht, wie lange sie bleiben, ob es vielleicht nur "eine Phase" wird. Zu Ostzeiten waren es bevorzugte Platten, zentral gelegen. Als sie mit der Renovierung anfingen und die gelb-braun-orangen Tapeten von den Wänden rissen, kamen ihnen lauter Kabel entgegen. Meterweise Schnüre trugen sie aus der Wohnung, sogar in den Fußleisten waren welche versteckt. Bis sie eines Tages der Hausmeister aufklärte, was es damit auf sich hat: Abhörkabel. Dreieinhalb Jahre blieben sie in der Wohnung. Es hat ihnen gefallen. Wieder hat ihnen niemand geglaubt.

Wann er das letzte Mal im Westen war, weiß Joachim Sörries nicht. Muss länger her gewesen sein. Manchmal fahren sie noch nach Würzburg, wo beide studiert haben, aber nach kurzer Zeit sind sie froh, wenn sie wieder weg sind. Und zu den meisten ihrer ehemaligen Kommilitonen ist der Kontakt ohnehin eingeschlafen. Nur ein Paar treffen sie regelmäßig. Die beiden sind Mitte der achtziger Jahre aus dem Osten geflüchtet. "Interessant, oder", sagt Joachim Sörries, "dass wir gerade mit denen Kontakt haben."

Nun sitzen sie in ihrer neuen Wohnung an einem großen, alten Küchentisch. Der Staatsanwalt kippelt auf den grünen Stühlen wie ein Schuljunge, draußen auf dem Flur toben die Kinder. Eigentlich müssten sie längst im Bett sein. Ein halbes Jahr lang hat er die Wohnung renoviert: Bäder eingebaut, Leitungen verlegt. Er stammt aus Höxter in Nordrhein-Westfalen und hat einen wunderbar gemütlichen Tonfall. Vor einiger Zeit war er in Würzburg. Dienstreise. Als er dort mit dem Taxifahrer über Frankfurt sprach und herauskam, dass er das andere Frankfurt meinte, das an der polnischen Grenze, fiel dem Fahrer fast die Kinnlade herunter. Ist es dort wirklich so schlimm?, fragte er. "Ach", ärgert sich Joachim Sörries, "diese Leute haben doch keine Ahnung."

Irgendwann war es bei ihm in der Familie so weit, dass sein Bruder ihm sagte: "Du redest schon wie ein Ossi." Im gleichen Gespräch muss auch das Wort "Jammerossi" gefallen sein. Wahrscheinlich hatte Joachim Sörries mal wieder zu erklären versucht, warum man die Biografien der Menschen im Osten etwas ernster nehmen sollte. Vielleicht hat er auch über dringend erforderliche Lohnangleichung gesprochen, denn die Lebenskosten seien im Osten doch genauso hoch wie im Westen. Natürlich könnte ihm das alles egal sein. Aber letztlich geht es um Anerkennung. Wenn schlecht über seine Stadt geredet wird, fühlt er sich persönlich angegriffen. Die aus dem Westen treffen auch ihn. Warum er es überhaupt nötig hat, im Osten zu leben, fragen sie.

Die Kritik kommt von außen - meistens von Westlern, die nur einen Zwischenstopp in Frankfurt an der Oder einlegen und gar nicht merken, wie schön es dort ist. Sie sehen nicht den Nationalpark, wo es Biber gibt und manchmal Elche und wo man stundenlang alleine Fahrrad fahren kann. Sondern sie sehen nur eine Stadt mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent, mit bedrückten Gesichtern und riesigen Plattenbausiedlungen, in denen kaum ein Baum steht.

Einen Bericht dieser Art sendete im vergangenen Jahr das ZDF in seiner Sendung "Frontal". Nachdem der Autor seinen Beitrag mit den Worten einleitete "Ganz tief im Osten", hatten die meisten schon genug. Der Rest des Films bestätigte ihre Befürchtungen. Anschließend gab es Diskussionen, und die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, weil ein porträtiertes Altenheim Anzeige erstattet hatte.

Das doppelte "Neuland"

Das allerdings war nichts im Vergleich zu dem Aufruhr, den es um das Buch von Luise Endlich gab. Die ganze Stadt ging auf die Barrikaden. Luise Endlich, eine Arztgattin, hatte in "Neuland" ihr Leben im Osten beschrieben. Darin werden die Ostler in etwa als Kittel tragende Wesen beschrieben, die kaum wissen, wie man Lasagne isst. Das fand man in Frankfurt gar nicht witzig. Inzwischen ist die Arztgattin samt Anhang wieder verschwunden. Das Ehepaar Sörries jedoch ist geblieben. "Neuland" - das ist nicht ihre Sicht. Und das von der Autorin beschriebene genussvolle "Bad im KaDeWe", in der Inkarnation des Deutschen Konsumtempels, können sie auch nicht nachvollziehen. Sie bestellen über Katalog.

Joachim Sörries, der Staatsanwalt, kramt das "Neuland"-Buch hervor, um zu erklären, was er an den Ostlern mag und an den Westlern nicht. Vielleicht ist "drüben alles mehr Fassade", sagt er, "elitäres Gehabe ohne viel dahinter". Mit "drüben" meint er den Westen. Die Ostdeutschen seien zwar keine besseren Menschen, aber die Westdeutschen nerven ihn. Diejenigen, die hier die dicke Mark machen wollten, sowieso. Aber auch solche, wie sie bei den Jägern auftauchten, mit denen er jetzt regelmäßig loszieht. Sie kamen mit "fetten Geländewagen und tollen Gewehren" und wollten den Ostdeutschen zeigen, wie der Wald wächst. Zum Glück war Joachim Sörries nicht dabei. Sie haben ihm davon erzählt, und weil er sie versteht, verteidigt er sie.

Und wie ist es mit den Rechten? Der Staatsanwalt wirkt, als habe er seit Stunden auf diese Frage gewartet. Und es war auch ein bisschen schwierig, ihm diese Frage zu stellen, denn er gilt als Aufräumer, er hat viele von ihnen hinter Gitter gebracht, eine Weile stand sein Name auf einer Abschussliste, die in rechten Kreisen kursierte. Als Staatsanwalt will er keine offizielle Antwort geben, Pressesprecher der Behörde ist er auch längst nicht mehr. Ganz privat jedoch glaubt er, dass es eine Jugendkultur ist, eine gefährliche zwar, aber "sie stehen eben auf Fred Perry und Lonsdale", sagt er, "die meisten sind Mitläufer". Sie finden es schick, dabei zu sein. Dann kommt die Einschränkung. Natürlich, sagt er, gehöre er nicht in das "Beuteraster". Wenn er farbig wäre oder einfach nur fremd aussehen würde, wäre er wahrscheinlich lieber in Aachen oder Hamburg. "Wissen Sie", meint er, "was mich viel mehr stört als die rechten Jugendlichen, ist, dass es hier so wenig Fachärzte gibt." Und so lange ihn die Jugendlichen auf der Straße mit "Herr Sörries" anreden, ist er zufrieden.

Seine Frau kommt in die Küche. Aus dem Kinderzimmer dringt Geschrei, das sieben Wochen alte Baby der Freunde ist aufgewacht. Katja Isenberg-Sörries hat im vergangenen Jahr im vorderen Teil der Wohnung ihre eigene Kanzlei eröffnet. Die Geschäfte laufen gut. Aber vor allen Dingen ist sie überzeugt davon, dass das im Westen nie möglich gewesen wäre. Kaum eine ihrer Freundinnen von früher hat ein Kind, weil sie Angst um ihre Karriere haben; und wenn doch ein Kind da ist, geht ein großer Teil des Verdienstes für die Kinderfrau drauf. Hier, in Frankfurt an der Oder, wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, gibt sie ihre zwei Kinder einfach in die Krippe. Im Westen nennt man sie deshalb "Rabenmutter". Das ist ihr egal.

In ein paar Wochen fährt sie wieder rüber, nach Würzburg zum Kommilitonentreffen. Dort werden sie sich an früher erinnern, über Professoren lästern und von hübschen Jungs schwärmen. Und bestimmt werden sie sie wieder fragen, warum sie immer noch im Osten lebt. Und wenn sie dann erklärt, wie gut es ihr dort geht, werden sie sagen: Ja, ja. Und wieder nichts verstehen.

Silke Becker

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