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Großer Unbekannter. Narendra Modi ist ein Einzelgänger. Es heißt, Freunde habe er kaum. Foto: AFP

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Indiens neuer Premierminister: Narendra Modi hat den Menschen einen Traum verkauft

Die einen vergöttern ihn, als wäre er ein Erlöser. Andere verlassen aus Furcht vor ihm das Land. In einem sind sie sich einig: Mit dem neuen Premierminister Narendra Modi brechen für Indien neue Zeiten an.

Er weiß um die Macht der Bilder. Als er nach seinem triumphalen Wahlsieg erstmals den Aufgang zum Parlament betritt, fällt Narendra Modi auf die Knie und berührt wie zum Gebet mit der Stirn die Stufen. „Seht her“, scheint er mit diesen Bildern sagen zu wollen, „ich bin kein verkappter Diktator, kein Tyrann, sondern ein Demokrat, der sich in tiefster Demut vor dem Parlament, dem Tempel der Demokratie, verbeugt.“

Seit Ende Mai ist der stämmige 63-Jährige mit dem weißen Bart und der randlosen Brille der 15. Premierminister Indiens und damit Regierungschef von 1,2 Milliarden Menschen. Mit reichlich Pomp wurde Modi vereidigt, 4000 Ehrengäste hörten andächtig und still, wie er mit getragener Stimme seinen Amtseid ablegte. „Gemeinsam“, sagte er in seiner Antrittsrede, „werden wir eine glorreiche Zukunft für Indien erschaffen.“

Tatsächlich nutzte Narendra Modi die Gelegenheit geschickt für einen diplomatischen Neuanfang in Südasien. Denn er lud Pakistans Premierminister Nawaz Sharif zu der Zeremonie ein. Das gab es noch nie. Ausgerechnet Modi, der Hindu-Hardliner, der noch im Wahlkampf gegen Pakistan gewütet hatte, reichte dem islamischen Erzfeind die Hand.

Kann man Modi trauen?

Vor wenigen Tagen nun fand die erste Sitzung des indischen Unterhauses statt. Doch Unbehagen bleibt: Kann man Modi trauen? Bis heute fragen sich auch viele Inder, wer dieser Mann ist, der vom armen Teeverkäufer an die Spitze der Atommacht Indien aufstieg. Der die seit Jahrzehnten fast monarchisch regierende Gandhi-Dynastie entthronte und ihrer Kongresspartei die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte zufügte. Den die einen vergöttern, als wäre er der ersehnte Erlöser, und den andere so fürchten, dass sie das Land verlassen.

In einem jedenfalls sind sich alle einig: Was Indien erlebt, ist mehr als ein Regierungswechsel. Es ist eine Zeitenwende, eine Zäsur in der Geschichte des Landes. Seit Wochen überbieten sich Medien geradezu mit historischen Vergleichen. Abwechselnd wird der Junggeselle Modi, der sich meist traditionell in Kurtas, den indischen Hängehemden, kleidet, Indiens Hitler, Putin, Reagan, Thatcher oder Deng Xiaoping genannt.

Vergleich mit Barack Obama

Selbst mit Barack Obama wird er verglichen. Wie einst Obama in den USA verkörpert Modi in Indien die Hoffnung auf Wandel. Laut indischen Zeitungen sollen sich die beiden Regierungschefs im September sogar erstmals treffen, um über die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder zu sprechen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die USA lange Zeit jeden Kontakt zu Modi abgelehnt hatten.

„Namo“, wie ihn seine Fans nennen, wirkt wie der gemütliche Onkel von nebenan. Wer die Angst seiner Kritiker verstehen will, die warnen, mit ihm könne das schwärzeste Kapitel in Indiens Geschichte beginnen, muss zwölf Jahre zurückgehen. Modis Hindupartei BJP, die damals Indien regierte, hatte den bis dahin eher Unbekannten gerade als Regierungschef des Bundesstaates Gujarat eingesetzt, als es dort nach einem Anschlag auf einen Zug mit hinduistischen Pilgern zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Angehörigen der muslimischen Minderheit kam.

Zakia Jafri lebte zu dieser Zeit mit ihrem Mann Ehsan in Ahmedabad, dem wirtschaftlichen Zentrum des Bundesstaats. Es war der 28. Februar 2002, als ihre Welt in Flammen aufging. Seit dem Morgen stiegen Rauchsäulen über der Fünf-Millionen-Stadt in den Himmel. Vor dem Haus der Jafris hatten sich tausende Hindufanatiker zusammengerottet. „Tötet die Muslime“, skandierten sie.

In Todesangst hatten sich 90 Menschen in das Haus der Jafris geflüchtet. Immer wieder rief Ehsan Jafri die Polizei an. Doch die wimmelte ihn ab. Dabei war Ehsan nicht irgendwer. Der Jurist saß früher im Parlament in Delhi, er war gut vernetzt. Die Menschen glaubten, er könne sie beschützen. Sie irrten.

Gegen 15.30 Uhr stürmte der Mob das Haus, zerrte den 72-Jährigen auf die Straße, hackte ihm Stück für Stück die Gliedmaßen ab und zündete ihn an. 39 Menschen, Frauen, Greise und Kinder wurden verbrannt. Erst danach ließen sich Polizisten blicken. „Was, so viele von euch haben überlebt?“, hätten sie gesagt, erzählt Zakia Jafri.

177 Millionen Inder sind Muslime

Wochenlang machten damals in Gujarat radikale Hindus Jagd auf Muslime. 1000 bis 3000 Menschen starben. Der Mob war nicht nur mit Gaszylindern, Benzinbomben und Macheten ausgerüstet, sondern auch mit Adressenlisten. Die Gerichte haben Narendra Modi später freigesprochen. Doch bis heute werfen ihm seine Gegner vor, dass er dem Massaker tatenlos zusah. Manche meinen, dass er es stillschweigend duldete.

Heute sind 177 Millionen Inder Muslime. Das ist zwar einerseits die drittgrößte muslimische Bevölkerung der Welt, im Land jedoch eine Minderheit, die fürchtet, noch weiter ins Abseits gedrängt zu werden.

Doch es gibt auch Leute wie Mobashar Jawed, kurz „M.J.“, Akbar. Er ist einer der bekanntesten Journalisten, Autoren und Kommentatoren Indiens. Wenn er ein neues Buch vorstellt, gibt sich die politische High Society Delhis die Ehre. Auch er ist Muslim. Nach den Massakern in Gujarat nannte er Modi einen „Hitler“. Modi „benutzt Hass als politische Waffe“, schrieb Akbar. „In Hitlers Fall waren die Juden der Feind. In Modis Fall sind die Muslime der Feind.“

Heute allerdings ist Akbar einer der größten Fans des Hindunationalisten. Am 22. März 2014 trat er in Modis Partei BJP ein und fungiert nun als ihr Pressesprecher. Modi sei die Lösung für die Krise, in der sich Indien befinde, meint er. „Narendra Modis Führung ist unverzichtbar für dieses Land.“

In der Tat hat Modi das vergangene Jahrzehnt genutzt, um sein Image zu reparieren. Er will nicht als Muslim-Hasser gelten, sondern als einer, der Schluss macht mit Korruption, Inflation und Hoffnungslosigkeit. Der Jobs schafft, für Straßen und Strom sorgt. Selbst der „Economist“ attestierte Modi widerwillig, sein Sieg bedeute „die bisher größte Chance Indiens auf Wohlstand seit der Unabhängigkeit“ im Jahre 1947.

Das Versprechen vom Aufschwung

Ohne Frage ist Narendra Modi ein Ausnahmetalent. Als drittes von sechs Kindern wird er am 17. September 1950 im indischen Vadnagar als Sohn eines Teeverkäufers geboren. Schon früh spielt der Hinduismus eine zentrale Rolle in seinem Leben. Bereits als Achtjähriger geht er zu den morgendlichen Drillübungen des Freiwilligenverbandes Rasthriya Swayamsevak Sangh. Der 1925 gegründete RSS ist eine Mischung aus Turnverein und radikal-hinduistischer Kaderschmiede. Mit seiner strammen Hierarchie und aggressiven Propaganda ist er eine gefürchtete politische Größe. Er will aus Indien einen Hindu-Staat machen, in dem sich religiöse Minderheiten wie Muslime unterordnen müssen. Seine angeblich fünf Millionen Mitglieder haben Askese und Zölibat geschworen.

Nachdem Modi von einer zweijährigen Pilgerreise durch den Himalaya zurückgekehrt ist, tritt er mit 21 Jahren offiziell in den RSS-Apparat ein und studiert Politik. Als Indira Gandhi im Sommer 1975 den Ausnahmezustand ausruft und die Opposition brutal verfolgt, geht Modi in den Untergrund. Als er 35 Jahre alt ist, schickt der RSS den talentierten Zögling in die Partei BJP, eine politische Schwesterorganisation. Dort beginnt Modis Karriere.

Bis heute folgt er den strengen Regeln des RSS. Er trinkt nicht, raucht nicht, isst kein Fleisch, macht Yoga und schläft angeblich nur fünf Stunden die Nacht. Er ist ein Einzelgänger, der kaum einen Menschen an sich heranlässt. Er speist meist alleine, in Schweigen versunken, berichten Medien. Auch Freunde habe er kaum. Als Teenager wurde er verheiratet, aber seine Frau verließ er bald. Die Ehe, so heißt es, sei nie vollzogen worden.

Mit dem Motiv der Enthaltsamkeit knüpft Modi an Nationalikonen wie Mahatma Gandhi an. Weil er keine eigenen Kinder habe, denen er Geld vererben müsse, könne er ganz dem Volk dienen, sagte Modi und stichelte so gegen den Gandhi-Clan. Rahul Gandhi verspottete er als kleinen, verwöhnten Prinzen.

Großer Personenkult

Die Gandhis haben Modis Massenwirkung lange unterschätzt. In den feinen Kreisen Delhis rümpfte man die Nase über den sozialen Aufsteiger aus den unteren Kasten, der kein perfektes Englisch spricht – die Sprache der Oberschicht. Doch Modi machte seine Herkunft zum Trumpf. Er, der frühere Chai-Wallah, Teejunge, sei, anders als die Gandhis, einer aus dem Volk.

Dabei betreibt er selbst einen Personenkult, der seinesgleichen sucht. Im Wahlkampf stilisierte sich Modi zu einer fast übermenschlichen Figur, lehnte sich in Gestik und Mimik an heilige Männer an. Mal entstieg er einer riesigen Lotusblume, mal erschien er per Hologramm auf mehreren Kundgebungen zeitgleich. Vielen Indern kam dies vor wie Magie.

Sein Erfolg lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Modi hat den Menschen einen Traum verkauft. Den Traum von einem Wirtschaftswunder nach dem „Modell Gujarat“. Das größte Wachstum habe er diesem Bundesstaat gebracht, protzte Modi. Strom gebe es dort rund um die Uhr. Je länger der Wahlkampf dauerte, desto mehr erschien Gujarat den Armen wie das gelobte Land.

Dem Versprechen vom Aufschwung mischte er nationalistische Töne bei, die Vision einer Großmacht Indien. Er hetzte nicht gegen religiöse Minderheiten – anders als seine Adjutanten. Nach den Wahlen werde man alle Modi-Gegner aus dem Land werfen, drohte etwa der BJP-Chef in Bihar, Giriraj Singh. Der Hindu-Führer Praveen Togadia verlangte, Muslimen solle verboten werden, in Hindu-Gebieten ein Haus zu kaufen.

Modi pfiff die Hetzer zurück. „Es gibt nur eine Religion für eine Regierung: Indien zuerst.“ Er weiß, dass er mit Hasstiraden in den liberalen Regionen Indiens eher für Schrecken sorgt, als dass sie ihm Punkte bringen. Zwar ist die Stammklientel der BJP die Hindu-Rechte. Aber die Massen haben Modi nicht gewählt, weil sie aggressiven Hindu-Chauvinismus wollen. Sondern weil er ihnen eine bessere Zukunft verspricht.

Firmenbosse beförderten seinen Sieg

Es war das junge, zornige Indien, das diesen Wechsel wollte. Männer, die keine Jobs finden; Mütter, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt bekommen; Arme, die genug davon haben, mit Almosen abgespeist zu werden. Und eine Mittelschicht, die nach sozialem Aufstieg hungert und nicht länger Schmiergelder zahlen will. Es waren jedoch vor allem die großen Firmenbosse, die seinen Sieg beförderten, indem sie einen Großteil seines Wahlkampfes finanzierten. Die Wirtschaft liebt Modi. Er gilt als Workaholic, der bis elf Uhr abends im Büro sitzt und selbst nachts telefonisch erreichbar ist. Und er lockt Firmen mit Steuerferien.

Aus Gujarat werden ihm autoritäre Züge und ein autokratischer Führungsstil nachgesagt. Mit Kritikern springt er rabiat um. Widerspruch duldet er nicht. Modi sei von Machthunger getrieben, sagte die Psychoanalytikerin und Aktivistin Madhu Sarin dem Magazin „Outlook“. „Personen dieser Art besitzen auf menschlicher Ebene kein Mitgefühl. Aber sie haben ein Gespür für die Unsicherheiten und Ängste der Menschen. Sie spielen mit diesen Ängsten, aber sie sind unfähig zu echten Bindungen.“

In Modis Regierung sitzt nur eine Muslimin, 93 Prozent der Kabinettsmitglieder sind Hindus. Auch Angehörige anderer Minderheiten oder unterer Kasten finden sich kaum. Ob das Land, geblendet von Modis Versprechungen, einen Tyrannen gewählt hat? Ganz von der Hand zu weisen ist diese Sorge vorerst nicht.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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