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Integration in den Niederlanden: Der Blick über den Deich

Lange Zeit galten die Niederlande für viele Deutsche als Beispiel für gelungenen Multikulturalismus. Spätestens seit den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh hat sich das Bild gewandelt.

Seit Oktober 2010 werden die Niederlande von einer rechten Minderheit regiert, die im Parlament auf die Tolerierung durch die Partei für die Freiheit (PVV) des Rechtspopulisten Geert Wilders angewiesen ist. Neben vielen anderen deutschen Politikern und Kommentatoren zeigte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vor sechs Monaten besorgt über die Entwicklungen im Nachbarland. Keine zwei Wochen später erntete sie jedoch in einer Rede von Wilders vor dem niederländischen Parlament Lob für ihre Aussage, dass die multikulturelle Gesellschaft „absolut gescheitert“ sei. Voller Zustimmung verwies Wilders auch auf die Äußerung von CSU-Chef Horst Seehofer, dass Deutschland keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen wie der Türkei oder dem arabischem Raum brauche. Wenn deutsche Politiker den Aufstieg des Rechtspopulismus im Nachbarland einerseits mit Empörung aufnehmen, zugleich aber vom Anführer der niederländischen Rechtspopulisten gelobt werden, scheint in der gegenseitigen Wahrnehmung wohl einiges nicht zu stimmen.

Das Bild der niederländischen Zuwanderungs- und Integrationspolitik in der deutschen Öffentlichkeit hat sich im letzten Jahrzehnt radikal gewandelt. Lange Zeit galten die Niederlande für viele Deutsche als vorbildliches Beispiel für gelungenen Multikulturalismus. In der Tat war die Integrationspolitik der Niederlande bis Anfang dieses Jahrtausends ausgesprochen multikulturell orientiert: Ethnische Organisationen wurden großzügig subventioniert, mehrsprachige Programme in Rundfunk und Fernsehen gefördert und Quoten für „ethnische Minderheiten“ im öffentlichen Dienst durchgesetzt. Als gelungen konnte man diese multikulturelle Politik aber keinesfalls bezeichnen, im Gegenteil:

Im europäischen Vergleich standen die Niederlande in vielen Punkten schlecht da. Zuwanderer waren auf dem Arbeitsmarkt vergleichsweise stark benachteiligt, die ethnische Segregation in den Wohnvierteln erreichte hohe Werte und Migranten waren in den Kriminalitätsstatistiken überdurchschnittlich häufig repräsentiert.

Spätestens seit die politisch motivierten Morde an dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn und dem islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh das Bild des multikulturellen Friedens endgültig zerstörten, ist auch in Deutschland durchgedrungen, dass die niederländische Integrationspolitik kein Patentrezept war.

Mit den Wahlerfolgen von Pim Fortuyn und Geert Wilders ist die deutsche Wahrnehmung der niederländischen Politik in Sachen Zuwanderung und Integration in ihr genaues Gegenteil umgeschlagen. Nun gelten die Niederlande als abschreckendes Beispiel für die Verbreitung des Rechtspopulismus in Europa. Aber auch dieses Bild beruht auf einer äußerst selektiven und verzerrten Wahrnehmung der Realität im Nachbarland. Sicherlich haben rechtspopulistische Parteien in den Niederlanden in den letzten Jahren bemerkenswerte Wahlerfolge erzielt. 2010 wurde Wilders' PVV mit sechzehn Prozent der Stimmen die drittstärkste Partei des Landes, noch vor den Christdemokraten. Nach langen Verhandlungen wurde sie dann im Oktober 2010 tolerierender Partner einer Minderheitsregierung von Rechtsliberalen (VVD) und Christdemokraten (CDA) unter Ministerpräsident Mark Rutte.

Aber was will diese Wilders-Partei eigentlich und was hat sie in der niederländischen Zuwanderungs- und Integrationspolitik bisher erreicht? Das Wahlprogramm der Partei forderte unter anderem, die doppelte Staatsangehörigkeit und das kommunale Wahlrecht für Ausländer abzuschaffen, die niederländische Staatsbürgerschaft erst nach zehn Jahren legalen Aufenthalts zu verleihen, Kopftücher für Beamte im öffentlichen Dienst zu verbieten und einen Zuwanderungsstopp für Migranten aus muslimischen Ländern zu verhängen. „Und vor allem“ sollte die Verwurzelung der niederländischen Kultur in den judeo-christlichen und humanistischen Traditionen ins Grundgesetz aufgenommen werden. Keine, buchstäblich keine dieser Vorstellungen hat die PVV bisher verwirklichen können. Stattdessen musste sie sich im Koalitionsvertrag mit einer butterweichen – und auch nicht realisierbaren – Bestrebung zur Halbierung der Zahl der Zuwanderer begnügen. In den Städten Den Haag und Almere – den einzigen Orten, in denen die PVV 2010 an Kommunalwahlen teilgenommen hatte – gelang es Wilders' Partei trotz eklatanter Wahlsiege nicht, in die Stadtregierungen einzuziehen, da sich die anderen Parteien weigerten, über ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst zu verhandeln.

Schauen wir nun zum Vergleich auf die integrationspolitische Situation in Deutschland, so wird plötzlich verständlich, warum Wilders deutsche Politiker mit Lob bedenkt. Das Wilders verhasste Kommunalwahlrecht für Ausländer wurde im Jahre 1990 vom deutschen Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit scheiterte im Jahre 1999 nach einer einmaligen Unterschriftenaktion der hessischen CDU, die fünf Millionen Unterzeichner fand. Und auch nach der Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts müssen Ausländer in Deutschland deutlich länger auf eine Einbürgerung warten als in den Niederlanden – acht statt fünf Jahre. Das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, an dem Wilders in den Niederlanden scheiterte, ist geltendes Gesetz in Hessen und Berlin; in der Hauptstadt wurde es sogar unter einem rot-roten Senat eingeführt.

In vielen anderen deutschen Bundesländern gilt ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, was in den Niederlanden undenkbar wäre. Auch wenn es um seinen großen Wunsch geht, den Verweis auf das judeo-christliche Fundament der nationalen Kultur im Grundgesetz, kann Wilders nur eifersüchtig über die Grenze, in diesem Falle auf die Landesverfassungen von Bayern und Baden-Württemberg, schauen. Die von ihm verlangte Zuwanderungsbeschränkung für Türken und Araber gibt es zwar auch in Deutschland nicht, mit der Forderung danach findet der PVV-Vorsitzende aber prominente deutsche Politiker wie Horst Seehofer an seiner Seite. Wilders, der für ähnliche Äußerungen momentan vor einem Amsterdamer Gericht steht, konnte somit im niederländischen Parlament behaupten: „Aussagen, mit denen man in den Niederlanden vor Gericht kommt, können in Deutschland von führenden Christdemokraten ausgesprochen werden.“

Aus diesem deutsch-niederländischen Vergleich lässt sich schließen, dass Forderungen, die in einem Land als rechtspopulistisch und unvereinbar mit dem demokratischen Wertekonsens gelten, im anderen Land von etablierten Politikern – nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums – vertreten werden und in vielen Bereichen sogar Gesetz sind. Wie man die Unterschiede in der Wahrnehmung dessen, was populistisch und für demokratische Parteien inakzeptabel ist, normativ-politisch bewerten sollte, ist nicht so eindeutig. Auf der einen Seite kann man es mit einem kritischen Blick auf Deutschland so sehen, dass hier vieles hoffähig und gesetzlich verankert ist, wovon Geert Wilders nur träumen kann. Auf der anderen Seite kann man der niederländischen Politik kritisch vorwerfen, dass sie Anliegen breiter Kreise der Bevölkerung, sich beispielsweise zu nationalen kulturellen Traditionen zu bekennen oder die Tolerierung islamischer religiöser Symbole in öffentlichen Institutionen einzuschränken, bis auf den heutigen Tag als undemokratisch oder sogar rassistisch verteufelt und somit dieses Wählerpotential den Rechtspopulisten überlässt.

Welcher dieser beiden Bewertungen man auch zuneigen mag – es würde der deutsche Debatte sicherlich gut tun, wenn deutsche Politiker zuerst in den eigenen Spiegel schauten, ehe sie sich besorgt über politische Entwicklungen in Nachbarländern äußern. Ebenso wäre es ein Gewinn, wenn niederländische Politiker nicht länger so täten, als ob sich die Niederlande mit Maßnahmen wie einem Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst oder einem Verweis auf humanistisch-christliche Werte im Grundgesetz jenseits jeder demokratischen Rechtsordnung stellen würden – es sei denn, man wollte auch Deutschland außerhalb dieser Ordnung platzieren. Die Hoffnung, dass das Bild des jeweiligen Nachbarn tatsächlich korrigiert würde, ist höchstwahrscheinlich eine Illusion, denn die verzerrten Bilder von den Nachbarn sind viel zu nützlich für den internen Gebrauch. Will man bestimmten Forderungen ihre Legitimität entziehen, ist es besser zu verschweigen, dass sie in anderen demokratischen Ländern für ganz normal befunden werden. Und möchte man das eigene Image leicht und ohne Kosten aufpolieren, was eignet sich dann besser als die symbolische Abgrenzung von ausländischen rechtspopulistischen Schreckgespenstern?

Der Autor ist Forschungsdirektor am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB)

Ruud Koopmans

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