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Internationale Pressestimmen: Große Gefühle, Freiheit und Mauerspechte

Sonderausgaben über den 9. November 1989 füllen die Zeitungen in Paris, New York oder Rio de Janeiro. Über die Feierlichkeiten am 20. Jahrestag berichten die großen Fernsehsender vor dem Brandenburger Tor weltweit live. Der Tagesspiegel befragte die Deutschland-Korrespondenten zu diesem historischen Ereignis.

Mutige Menschen und unsichtbare Mauern

In unserer Gegenwart hat wenig wirklich Bestand. Wie schnell vergessen wir, was wir zuvor hörten und sahen. Der Fall der Berliner Mauer ist auch in den chinesischen Medien ein Riesenthema. Dort wie hier diskutieren die Menschen über die noch immer existierenden Probleme nach 20 Jahren Mauerfall, der Lebensstandard der Ostdeutschen habe sich nicht genug angeglichen und es klaffe eine scheinbar unüberwindliche Lücke zwischen Ost- und Westwirtschaft. Und überhaupt existierten noch so viele unsichtbare Mauern in den Köpfen. Auch über das lang geplante Protokoll der Feierlichkeiten im renovierten Herzen Berlins wird berichtet.

Aber die bewegenden Szenen, die heute in Zeitungen und im Fernsehen um die Welt gehen, beweisen, dass nicht nur eine Mauer eingerissen wurde. Nein. Es wurde die Kontrolle eines Sicherheitsapparates am Schlagbaum von einfachen Bürgern überannt und Familien fanden an dem Abend des 9. November 1989 nach 28 Jahren Trennung wieder in Freiheit zusammen. Ich sah in den Augen der Bürger, das an diesem Abend lang gehegte Wünsche sich realisierten. Ich sah aber auch eine Bestimmtheit und Wut in diesen Augen, die mir sagten, dass die Zeit für einen Wandel reif war. Dass die Meinungs- und Reisefreiheit auch mit anderen Mitteln gegen das Regime hätte durchgesetzt werden können.

Aber was machen Menschen heute, die gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung kämpfen und es keine sichtbaren Mauern gibt, die sie aufbrechen und überrennen können? Noch immer existieren viele unsichtbare Mauern: seien sie zwischen Kulturen, zwischen Arm und Reich, zwischen Gefühlen, aber auch solche, die die Bewegungs- und Meinungsfreiheit einschränken. All das Engagement dieser mutigen Menschen bleibt folgenlos und wird ignoriert. Ich wünschte, alle Mauern könnten sichtbar gemacht werden, so kalt wie die Berliner Mauer vor 20 Jahren. Nur, um uns daran zu erinnern und gegen das Vergessen aufzulehnen. Denn ohne es zu merken, werden wir nach und nach von unsichtbaren Mauern eingeschlossen. 
           
Lixin Jiang, Beijing Daily Media Group, Peking

Nicht Übertragbar

Der Fall der Mauer ist eine wichtige Erfahrung bezüglich der chinesisch-taiwanesischen Beziehungen. Doch so einfach lässt sie sich nicht übertragen. Weder ist Taiwan als Westen zu verstehen. Noch ist China das Ost-Berlin von Erich Honecker. Aber Chinesen und Taiwanesen verbindet heute eine gemeinsame Geschichte, wie sie eben auch West- und Ostberliner damals gelebt haben.

Pi-Fen Chen, Commercial Times, Taiwan 

Hypnotisiert auf der Mauer

Ich stand mitten im Anfang vom Ende. Als Korrespondent berichtete ich in dieser Nacht über den Fall der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Die Menschen wirkten wie hypnotisiert. Zunächst bewegten sie sich ganz vorsichtig. Als ob sie etwas Verbotenes tun würden. Unfassbar waren diese letzten Stunden. Doch schnell siegte die Neugier und die Angst wich von ihren Gesichtern.

Silio Boccanera, TV Globo, Rio de Janeiro

Die Macht des Volkes

In den 1980ern reiste ich oft nach Ostberlin. Und immer war es dieselbe Prozedur, um hinter den Eisernen Vorhang zu gelangen - reine Zeitverschwendung, die aber notwendig war, um von den Staatsbürokraten ein Visum zu erhalten. Zurückzukehren nach London war immer ein befreiendes Gefühl. Ich wurde mir bewusst, wie viel Freiheit ich hatte.

Ostberlin war dunkel. Überall – in Hotels, Restaurant, auf Bahnhöfen und Plätzen – sprachen die Menschen sehr leise miteinander. Sie sahen sich auch nicht in ihre Augen. Die Ruhe war ihr Schutzschild, um zu überleben. Als Kameramann eines westlichen Landes verfolgte mich die Stasi auf Schritt und Tritt. Es war schwierig unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Die Kamera war ein Zeuge und Zeugen wollte die Stasi auf keinen Fall haben. Ich verlor viel Bildmaterial. Es wurde jedes Mal von den Beamten auf dem Weg nach Westberlin an den Grenzübergängen konfisziert. Bis ich auf die glorreiche Idee kam, ihnen leere Kassetten auszuhändigen und meine Berichte selbst versteckte.   

Der ostdeutsche Staat besaß die Seele seines Volkes. Ich wollte das nicht wahrhaben. Als ich vor dem Brandenburger Tor über die Nacht des 9. November 1989 berichtete, wurde mir klar, dass Tyrannen gegen die Hoffnung von Menschen und ihrer Gemeinschaft nie ankommen können. 

Paulo Pimentel, TV Globo, London

Globalisierte Gefühle

Und doch – ich kann die Bilder jener Novembernacht 1989 nicht anschauen, ohne dass mir die Tränen in die Augen steigen und der Hals sich zuschnürt. Ich bin nicht die Einzige. Jeder Berliner, ob aus dem Osten oder dem Westen, hat seinen eigenen 9. November. Jeder erinnert sich, was er an dem Abend gemacht hat, seine Überraschung, seine erstaunten Ausrufe.

Heute lächeln wir vor dem Fernseher, wenn wir die Vokuhila-Frisuren der jungen Ostdeutschen sehen, die blonden Dauerwellen der Mädchen, die ausgewaschenen Jeansjacken, den blassen Teint. Wie lange das schon her ist. Und wie erschreckt sie waren über das, was da plötzlich mit ihnen geschah. Die Freudenschreie, die Umarmungen, die Tränen. Unmöglich, dieser Bilder überdrüssig zu werden. Sie brauchen keine kitschigen Kommentare, keinen Thomas Gottschalk, nicht einmal die auf den Stufen aufgereihten Staatschefs. Sie sprechen für sich.

Die Berliner und wir Ausländer, die das ungeheure Glück hatten, an jenem Abend am Checkpoint Charlie zu sein, wir werden uns die Zeit nehmen, einen Moment innezuhalten, um an diese Nacht zurückzudenken. Weit weg von den offiziellen Festivitäten, von der Live-Inszenierung am Brandenburger Tor. Denn so sehr ich auch darüber nachdenke – ich glaube nicht, dass ein anderes Ereignis nach dem Krieg solche globalisierten Gefühle ausgelöst hat wie der Fall der Berliner Mauer. Nicht einmal der erste Mensch auf dem Mond, nicht einmal das verfrühte Erscheinen der Lebkuchen bei Butter Lindner.

Pascale Hugues, Le Point, Berlin

Gegenseitige Anerkennung

Nie wieder dürfen wir schon im Januar mit der Diskussion über November 1989 anfangen. Seit Monaten werden wir mit Berichten, Dokumentarfilme und Sonderbeilagen überflutet. Die Fernsehbilder vom 9. November sind mir so vertraut, ich kenne sie inzwischen auswendig – sie haben sich sozusagen eingebrannt -  wie die Grenzoffizier an der Grenzübergang Bornholmer Straße beschimpft wurden.

Wie viele Freunde von mir, kann ich langsam „Fall der Mauer“ und „friedliche Revolution” nicht mehr hören und das ist wirklich Schade. Weil für mich, der 9. November 1989 der glücklichste Tag des 20. Jahrhunderts ist. Wie alle Europäer, verneige ich mich vor den mutigen Ostdeutschen - in Berlin aber auch in kleineren deutschen Städten, die sich 1989 auf die Straßen getraut haben um ihr Schicksal in den eigenen Händen zu nehmen.

Ich hoffe, dass diese Menschen heute ein ruhiges Moment finden, um die Freude und die Hoffnung von damals nachzuspüren. Ich wünsche mir, dass die Deutschen Ost und West die gegenseitige Anstrengungen der letzten 20 Jahren anerkennen. Und ich würde mich freuen, wenn die deutschen Medien endlich die eigene „Mauer in den Köpfen“ überwinden würden, wie es bei der Mehrheit der Deutschen längst der Fall ist. Und nächstes Mal, liebe Kollegen, bitte erst in Oktober anfangen.

Derek Scally, Irish Times, Berlin

Von Grausamkeiten zum Gesellschaftsspiel

Den Fall der Mauer erlebe ich in Paris. An der Journalismusschule läuft der Fernseher ununterbrochen. Für mich, der schon recht früh mit Deutschland in Berührung kam, löst dieses Ereignis starke Emotionen aus. In diesem Jahr des 200. Jubiläums der französischen Revolution singen im Juni die chinesischen Studenten vor der Niederschlagung ihres Aufstands die „Marseillaise“ auf dem Tian’anmen Platz. Die Ostdeutschen dürfen ein paar Monate später einen himmlischen Frieden erleben, der in Frankreich für Begeisterung in der Bevölkerung sorgt. Im Gegensatz zu Anderen fahre ich aber nicht gleich nach Berlin. Um so häufiger werde ich dies in den folgenden Monaten tun.

Dezember 1989. Die Geschichte beschleunigt sich. In Dresden spricht Kohl vor der zerstörten Frauenkirche. Beindruckende Bilder prägen sich in mir ein: Die Ruinen eines anderen Deutschlands sind hell beleuchtet in der kalten Dezembernacht. Die Deutschland-Fahnen wehen. Ein neues Deutschland entsteht. Das Brandenburger Tor wird eröffnet. Während dessen besucht der französische Staatschef den sterbenden Schwan DDR. Vor der Karl-Marx-Universität in Leipzig hält jemand ein Transparent: „Auch wir sind ein Volk, Herr Mitterrand“. Man denke an den Spruch von Gorbatschow: „Wer zu spät kommt…“.

Im Zug von Dresden nach Berlin steigt ein Student außer Atem ein. Anselm rät uns, unsere Wende-Bücher zur Seite zu legen. Er könne uns alles besser erklären. Es ist der Beginn einer langen Freundschaft. Kurz danach erleben wir gemeinsam die Öffnung des Brandenburger Tors. Das Symbol der deutschen Trennung wird zum Symbol der Einheit.

An einem Januartag werde ich in Paris aus dem Bett geworfen. Anselm ist durch Europa ohne eine müde Mark unterwegs. Er saugt ohne Schlaf und voller Begeisterung die neu gewonnene Reisefreiheit. Ich zeige ihm Paris. Am 18. März 1990 hüpfe ich in Ost-Berlin nach den ersten freien Wahlen von einer Wahlparty zu anderen. Im leider abgerissenen Ahornblatt weht bei den Siegern der CDU ein Meer von Deutschland-Fahnen. Bei den Sozialdemokraten nehme ich ein Foto von Ibrahim Böhme auf. Ein langes Mikro verlängert die Nase des ostdeutschen SPD-Chefs. Später wird seine Stasi-Tätigkeit enthüllt.

Im Mai absolviere ich ein Praktikum bei einem Westberliner Blatt. Neben Anselms Wohnung steht eine andere leer. Ein Sprung von einem Balkon zum anderen, ein anderes Schloss an der Tür, eine schnelle Streichaktion: Schon ist meine Bleibe in Schöneweide perfekt. Jeden Tag fahre ich als Westler bewappnet mit meinem eigentlich überflüssigen DDR-Visum über Checkpoint Charlie. Nach einer Weile wird der Exot erkannt. Statt prüfende Blicke und Stempeln werde ich erkannt, freundlich begrüßt und durchgewunken. Aus dem Todesstreifen ist ein Gesellschaftsspiel geworden, der die Grausamkeiten einer frischen Vergangenheit in den Hintergrund geraten lässt.

Pascal Thibaut, Radio France, Berlin


Mauerspechte mit Gefühl

Als ich die BBC Frühstückssendung  am Freitag, den 10 November hörte, hatte ich sehr stark das Gefühl, das ein neue Ära angefangen hat. Damals feierte ich gerade erst meinen 18. Geburtstag. Mein Leben hatte also gerade erst angefangen, und ich war sehr offen für die Welt. Der Fall der Mauer beeinflusste mich nachhaltig – ich fing an Deutsch zu studieren.

Im Oktober 1990 war ich dann in Berlin. Auf einer Straße fragte ich einen Polizisten in meinem schwachen Deutsch „Wo ist die Mauer?“ Er schmunzelte: „Junge Frau, haben sie die Zeitungen nicht gelesen?“ An dem Tag fand ich aber noch ein Stück Mauer ungefähr dort, wo heute das Marie-Elisabeth Lüders Haus jetzt steht. Ich mietete mir einen Hammer von einem Russen für 5 DM, um mein eigenes Stück Mauer mit nach Hause nehmen zu können. Die liegen noch heute auf dem Dachboden im Haus meiner Eltern.

Mein Bruder, der mit seinem Auto zum „The Wall“ Konzert von Pink Floyd nach Berlin kam, ging mit einem Eisenstab zur Mauer. Nach dem Konzert fuhr er mit einem riesigen Stück Mauer im Kofferraum zurück. Heute ziert es seinen Steingarten. Das waren berührende Zeiten und jeder wollte daran Teil haben.

Kate Connolly, The Guardian, Berlin

Peinlich kurzes Gedächnis

Für mich sind zwei Sachen kaum nachvollziehbar. Wie konnten die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte noch am 17. November 1989 – also eine Woche nach dem Mauerfall – die friedliche Studentendemo in Prag niederschlagen? War es den Prager Machthabern nach den spektakulären Ereignissen in Polen und in Ungarn und dann noch in Berlin nicht klar, dass alles vorbei ist?

Als die Mauer fiel, war ich 13 Jahre alt. Trotz meines Alters habe ich aber sehr gut verstanden, wie pervers das totalitäre Regime war. Eine für unsere Straße zuständige Parteifrau hat mitbestimmt, welche Schule ist für mich die richtige war. Diejenigen die heute behaupten, egal ob in Tschechien oder in Ostdeutschland, „es war nicht alles schlecht,“ haben ein peinlich kurzes Gedächtnis.

Jiří Hošek, Tschechischer Rundfunk, Berlin    

Der Abend des 9. November  - die neue Heimat

Selten hatte ich so das Gefühl, gerade am falschen Ort zu sein: Mein TV-Dreh in Los Angeles machte Spaß, aber ich kam kaum vom Fernseher weg, wo Tom Brokaw live vor der Mauer stand und die Reporterleistung seines Lebens lieferte. Welch ein Ereignis, was für ein Moment, welch eine Stimmung!

Heute, nach zehn Jahren in Berlin, denke ich oft daran, wenn ich am Brandenburger Tor bin. Und wenn ich jetzt über diese Tage schreibe, das Vorher und Nachher, frage ich mich: Wo ist nur diese Stimmung geblieben? Wie kann ein Drittel der Ostdeutschen, ja der Berliner, 20 Jahre danach die für die Mauer, diese Tyrannei verantwortliche Partei, deren Leute und Gesellschaftsmodell wählen. Und diesmal sogar freiwillig? Wäre es damals nicht ökonomisch und moralisch total gescheitert, wären jetzt vielleicht Bisky Staatsratsvorsitzender und Gysi Politbüro-Sprecher. Alles wäre nur weniger langweilig als Honecker selbst.

Die gigantischen Sprünge in der ostdeutschen Lebensqualität inklusive sozialer Sicherheit für alle - außer die Ex-Unterdrücker -, sind fühl- und messbar. Alle Ehrlichen wissen das. Ja, viele hatten es auch nach 1989 schwer, manche oft schwerer als vorher. Aber die Mehrheit hat ein Leben in Freiheit statt in scheinbarer Gleichheit erträumt – und nicht nur Golf und Mallorca. Ach, Ihr Linke- Wähler: Frust, Bitterkeit und Neid über die, die Euren Lebensstandard täglich mit erarbeiten, machen unglücklich, wählt bitte die Zukunft, nicht die Vergangenheit! Erinnert Euch an die Gefühle von 1989. Dann fühlt auch Ihr Euch wieder am richtigen Ort.   

Reinhard Frauscher, Kurier, Berlin

Russland gehört zu Europa

Am Morgen des 9.November 1989 hatte ich mir das Tagesende in unserer Moskauer Redaktion so nicht ausmalen können. Kaum jemand hatte die sich überschlagenden Ereignisse an der Berliner Mauer damals so weder gewollt noch erwartet, wie es kam. Ich glaube das Entscheidende war, dass sowjetische Truppen in der DDR in den Kasernen blieben. Ein Befehl hätte genügt, um  gemeinsam mit den „bewaffneten Organen der DDR“ die Staatsgrenze wieder dicht zu machen. Der Befehl ist aber nie gekommen.

Mich widert die russische Debatte, ob Moskau die DDR „für einen Pappenstiel“ abgeben hätte müssen, an. Gorbatschow hätte angeblich für den großzügig gewährten Mauerfall mehr verlangen müssen. Ein geteiltes Volk aber als Geisel der Konfrontation zwischen beiden Supermächten zu nehmen, wäre, in meinen Augen, höchst amoralisch gewesen.  

Die Berliner Mauer ist Vergangenheit, und ich freue mich für Deutschland und die Deutschen. Die meisten Russen fühlen genauso. Doch die „Mauern in unseren Köpfen“, wie es Angela Merkel formuliert, sind geblieben. Noch immer legen einige in der Europäischen Union Wert darauf, dass Russland nicht Europa ist. Aus diesem nach wie vor fremden, rätselhaften und unberechenbaren Land kämen Kälte und Gefahr. Gaslieferungen machten die Deutschen abhängig, russische Hilfe für Opel mache Deutschland in Zukunft erpressbar. Diese unverdiente Einstellung zu meinem Land stört und ist beleidigend. Preis hin, Preis her, wir hatten mit einem aufgeschlossenen Empfang im gesamteuropäischen Raum gerechnet. 

Dmitri Tultschinski, RIA Novosti, Berlin

Wind of Change

1989 war ein ganz besonderes Jahr in der Sowjetgeschichte. Die erste freie Wahl des Obersten Rats fand statt, Boris Jelzin wurde vom Parteifunktionär zum Oppositionsführer, und die ersten Karikaturen von Lenin und Stalin durften in der öffentlichen Presse erscheinen. D ie Wende in der Sowjetunion begann früher und endete später als in Osteuropa. Und für die meiste Bevölkerung spielten die internationalen Ereignisse - friedliche Revolutionen in Polen und Tschechien, Krawalle in Rumänien und der Mauerfall in der DDR - keine große Rolle. Dennoch empfinde ich es ein wenig als ungerecht, wenn Helmut Kohl und George Bush heute als wichtigste „Teilnehmer” des Prozesses der Wende gekrönt werden. Ohne Michail Gorbatschow, ohne den Hauch von „wind of change”, der aus der ehemaligen Sowjetunion wehte, hätte die Wende in Osteuropa überhaupt nicht stattgefunden.

Victor Trofimov, KVIR- Magazin, Moskau

Schatten falscher Erinnerungspolitik

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer brennen allabendlich Autos in den Berliner Bezirken, in Kreuzberg, Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain, dort, wo früher der Todesstreifen bestand. Von dieser Grenze ist kaum noch was zu sehen. Die Stadtregenten an der Spree haben sie systematisch entfernt. Die Erinnerung an das Elend des kalten Krieges war zu groß.

Zwei Jahrzehnte später rächt sich das. Hunderttausende Touristen, die einzige wirkliche Einkommensquelle der Stadt, wollen die Mauer sehen. Aber wo ist sie? Verschwunden, zwischen den Townhäusern der Latte Macchiato-Leute, den urbanen Bauprojekten der Bionade-Bourgeoisie. Die Besserverdiener zahlen jetzt die Rechnung für das Verdrängen der Subkultur.

Rob Savelberg, De Telegraaf, Berlin

Weltweite Geschichtsstunde

Ich bin fasziniert vom 9. November 1989 und dem historischen Wandel, der sich in dieser Nacht in Berlin abspielte. Heute ist der Mauerstreifen ein Touristenmagnet, an dem junge Menschen aus der ganzen Welt aus dieser schrecklichen deutsch-deutschen Vergangeheit lernen können, um eine bessere Zukunft gemeinsam und nicht getrennt zu gestalten.

Francis Ameyibor, Ghana News Agency, Accra

Von anderen Mauern

Meine erste „wirkliche Begegnung“ mit Deutschland erfolgte 1971. Als wir mit dem Auto in Berlin ankamen, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Über die Mauer, die Deutschland von Deutschland, Berlin von Berlin, Deutsche von Deutschen trennten, hatte schon eine ganze Menge gelesen. Aber diese Mauern vom Nahen und am Ort zu sehen, hatte mich sehr gerührt. Oder eher traurig gemacht.

Obgleich behauptet wird, dass Deutsche kalte Menschen sind und sich von Fremden fern halten, habe ich immer das Gegenteil erlebt. Die „Durchbohrung“ der Berliner Mauer am 9. November 1989 verfolgte ich als Hürriyet-Korrespondent in Bonn vom Fernsehen mit. Ich hatte mich über den Fall der Mauer wie verrückt gefreut, die Umarmung unbekannter Menschen und ihre Freude habe ich auch geteilt. Am nächsten Tag fand ich mich in Berlin wieder. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 nahm ich an den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung von Deutschland vor dem Reichstag teil.

Als zur Wiedervereinigung der zwei Deutschen Staaten die „Freiheitsglocken“ läuteten, klatschte auch ich, wie alle anderen. Ich wurde an einem historischen Ort Zeuge von Deutschland und den Deutschen, die sich in Unabhängigkeit verbunden, von Deutschen, die „Wir sind ein Volk“ riefen und deren Wünsche wahr wurden. Auch wenn ich Zeit für Zeit enttäuscht werde, fühle ich mich in diesem modernen, demokratischen Rechtsstaat  wohl.

Ja, ich lebe seit 36 Jahren in diesem Land. Ich bin kein deutscher Staatsbürger. Aber Deutschland ist für mich meine „zweite Heimat“ und für unseren 13-jährigen Sohn Berk-Ömer die „erste Heimat“. Die Mauer ist vor 20 Jahren gefallen. Aber leider stelle ich fest, dass die Mauer in vielen Köpfen existiert. Ich hoffe, dass wir auch diese Mauer bald loswerden. Weil ich in einem Deutschland ohne Mauer auch in den Köpfen leben möchte.

Ahmet Külahci, Hürriyet, Berlin

Dem Osten sei Dank

„Geben Sie mir die Einheit der Arabischen Welt, und ich wäre bereit, mich mein Leben lang nur von Brot und Wasser zu ernähren!“, so reagierte ich im Jahre 1990 auf den Versuch unseres damaligen Deutschlehrers uns - ausländischen Studierenden am Studienkolleg der FU Berlin - die Debatten nach dem Mauerfall und vor der Wiedervereinigung zu erklären. Mir war als junger Mensch absolut nicht verständlich, wieso so viele Politiker und Bürger im Westen von den Kosten eines so unglaublichen historischen Moments wie die Wiedervereinigung Deutschlands reden. Meinem Deutschlehrer, ein abgeklärter Linksintellektueller, fehlte es damals aber nicht an Schlagfertigkeit: „Was haben Sie von einer Einheit, wenn für Sie am Ende nur Brot und Wasser heraus kämen?“

Das Abwiegen vom Materiellen auf der einen und Symbolischen auf der anderen Seite wird die Einheitsdebatte auch 20 Jahre nach dem Mauerfall begleiten. Eine Debatte von äußerster Relevanz und Reichweite. Denn, es ist inzwischen eine nicht zur Diskussion stehende Tatsache, dass der „Westen“ dem „Osten“ in den letzten 20 Jahren unter die Arme greifen musste. Es ist vielleicht nicht unverständlich, wenn hier und dort im „Westen“ ab und an der Schrei nach einem „Danke“ laut wird. Das sind die Gesetze des Materiellen. Und wie sieht es aus nach den Gesetzen der Symbolik? Genau umgekehrt: Es waren ausschließlich die Ostdeutschen und Ost-Berliner, die Kopf und Kragen für die Wiedervereinigung riskiert haben, die jene Mauer zum Fall brachten. Und wo bleibt „20 Jahre danach“ das dicke Danke, liebe „Westler“?

 Aktham Suliman, Al-Jazira, Berlin

Die Pressestimmen wurden von Matthias Lehmphul eingefangen.

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