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Militärische Modernisierung: Rätselraten über türkischen Raketenkauf

Ankara fühlt sich offiziell nicht vom Iran bedroht – aber das Militär rüstet auf. Die Vermittlerrolle der Türken gerät in Gefahr

Wenn ein relativ armes Land mitten in einer Weltwirtschaftskrise eine Milliarde Dollar für ein Raketenabwehrsystem ausgeben will, dann muss es dafür gute Gründe geben – sollte man meinen. Doch in der Türkei ist das ein wenig anders. Die Militärs in Ankara gaben in den vergangenen Tagen zwar bekannt, dass bis Mitte Oktober darüber entschieden werden soll, ob die „Patriot“-Firma Raytheon aus den USA oder eine ihrer drei Mitbewerber den Zuschlag für die Lieferung von vier Abwehrbatterien erhalten soll. Doch warum genau die Türkei ein solches System braucht, blieb offen.

Die neuen Raketen seien mobil und könnten „an jeder Front eingesetzt werden“, sagte Militärsprecher Metin Gürak. Laut Verteidigungsministerium sind die Raketen Teil eines längst beschlossenen Modernisierungsprogramms für die Armee. Der Kauf richte sich nicht gegen ein bestimmtes Land, betonte Armeesprecher Gürak. Damit spielte er auf Spekulationen an, die Türkei befürchte einen Raketenangriff aus dem benachbarten Iran. Da Teheran vorgeworfen wird, ein Atomwaffenprogramm zu betreiben, könnte die Anschaffung eines Raketensystems für Ankara zumindest aus Sicht der Militärs sinnvoll sein. Doch offiziell will Außenminister Ahmet Davutoglu davon nichts wissen. „Man darf auf gar keinen Fall eine Verbindung zwischen den Patriots und dem Iran ziehen“, sagte er dem Fernsehsender CNN-Türk. Schließlich betreibt Davutoglu eine Außenpolitik unter der Zielvorgabe, einen Zustand von „null Problemen“ mit allen türkischen Nachbarn herzustellen. Vorbereitungen auf einen Raketenangriff aus dem Nachbarland Iran passen da nicht ins Bild.

Möglicherweise verbergen sich hinter dem „Patriot-Rätsel“, wie das Thema in der Presse bezeichnet wurde, Differenzen zwischen Regierung und Militärs. Die türkische Armee kommt bei der Analyse außenpolitischer Bedrohungen häufig zu ganz anderen Ergebnissen als die Politiker – und die Generäle werden bei ihren Einkaufswünschen nach wie vor von den Zivilisten weitgehend in Ruhe gelassen. So kann es kommen, dass die Armee das Land mit teuren Projekten vor Bedrohungen schützen will, die es laut den Politikern überhaupt nicht gibt, wie die angesehene Militärspezialistin Lale Kemal in der Zeitung „Today’s Zaman“ schrieb: Die Folge sei die „unnötige Anschaffung von militärischem Gerät“.

Spekuliert wird auch über eine Rolle der Türkei in einer neuen US-Raketenstrategie. Nach dem Verzicht auf den Aufbau eines Raketenschildes in Osteuropa könne jetzt die Türkei, das einzige Nato- Mitglied mit einer Grenze zu Iran, in den Vordergrund rücken, kommentierten die Zeitungen. Immerhin hatte US-Präsident Barack Obama vergangene Woche die Bedrohung durch iranische Kurz- und Mittelstreckenraketen betont. Die Türkei liegt in der Reichweite solcher Waffen.

Was immer hinter dem türkischen „Patriot“-Projekt stecken mag: Die Diskussion kommt zu einem für die Türkei sehr unangenehmen Zeitpunkt. Am 1. Oktober sollen voraussichtlich auf türkischem Boden neue Gespräche zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und den Iranern über das Teheraner Atomprogramm stattfinden. Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates – die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – sowie Deutschland wollen sich erstmals seit mehr als einem Jahr mit den Iranern an einen Tisch setzen.

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