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Spießer in den Cyberspace: Ein Plädoyer für ein bürgerliches Internet

Der Kabarettist Dieter Nuhr hat für die FAZ über seine Erfahrungen mit dem digitalen Meinungs-Mob geschrieben. Wir nehmen das zum Anlass, einen Text von 2009 erneut zu veröffentlichen. Ein Plädoyer für das bürgerliche World Wide Web.

Von Markus Hesselmann

Der vielfach auf Twitter und Facebook attackierte Kabarettist Dieter Nuhr schreibt in einem Essay für die "FAZ": "Es ist die Aufgabe der kommenden Jahrzehnte, unter den Akteuren im Internet eine Kultur der Aufklärung zu schaffen, um die digitale Welt in ein bürgerliches Zeitalter zu überführen."

Anlässlich der Diskussion stellen wir hier einen Beitrag aus dem Jahr 2009 zur Verfügung, um eine neue Debatte anzuregen.

Alle reden über das Internet. Communities, Social Networks, Web 2.0 – die anglizistischen Schlagworte sind längst nicht mehr nur Experten geläufig. Aber so richtig angekommen in der Mitte der Gesellschaft und ihren Diskursen ist das neue Medium – oder ist es mehr als ein Medium? – in Deutschland noch nicht. In den Wahlprogrammen der Parteien, die im Bundestag vertreten sind, ist das Internet eher ein Randphänomen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Datenschutz, Urheberrecht oder technischer Innovation mit Arbeitsmarkt- und Exportpotenzial, weniger auf der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung.

Eigene Kapitel zum Internet haben von den fünf Parteien nur die Grünen und die Linke in ihren Programmen. Kein Wunder, dass sich vor allem junge, mit dem Internet aufgewachsene Wähler, von der Piratenpartei angezogen fühlen, die mit flatternder Fahne für die Freiheit im Netz kämpft – und sonst nicht für viel mehr. Doch wir Journalisten sollten nicht nur auf die Politiker zeigen: In den klassischen Medien setzt sich nur langsam die Erkenntnis durch, dass die schrägen Vögel aus der Online-Redaktion Journalisten sind wie du und ich. Umgekehrt kreist die deutsche Bloggerszene meist um sich selbst. Jenseits der Medienkritik ist ihr Beitrag zur öffentlichen Debatte bescheiden.

All dies wird dem, was da über den Cyberspace auf uns zukommt, nicht im Ansatz gerecht. In seinem jüngsten Buch „The Big Switch. Der große Wandel“ beschreibt der Internetanalytiker Nicholas Carr den ebenso historischen wie brandaktuellen Prozess der „Vernetzung der Welt von Edison bis Google“. Alle Computersoftware kommt demnach künftig wie Strom aus der Steckdose und wird genauso unverzichtbar sein für die Wirtschaft wie für den beruflichen und privaten Alltag der Menschen. Eine lebenswichtige Ressource, dargereicht durch das Internet. Aufwändige Installationen und Entwicklungen werden weder in Unternehmen noch in Haushalten nötig sein, sondern wie schon die Energie von Versorgern geliefert.

Mehr als ein Medium

Aber wer übt die Kontrolle über diese Ressource aus, von der wir genauso abhängig sein werden wie von Strom und Gas? Droht eine Monopolisierung? Sammelt sich gigantische, grenzübergreifende Macht in wenigen Händen? Übernimmt Google die Weltherrschaft nach einem Kalten Krieg mit Microsoft? Auch wenn das übertrieben klingt und alarmistisch, so wird doch deutlich, dass das Internet mehr ist als nur ein weiteres Medium, und dass Umwälzungen anstehen, die weit über die aktuellen Streitigkeiten über Copyrights und Raubkopien hinausgehen und selbst die Debatten über Datenschutz und Cyberkriminalität überschaubar erscheinen lassen. Carrs historische Einordnung des „großen Wandels“ belegt aber auch, dass das Internet nichts Außerirdisches ist, das schicksalhaft und unbeherrschbar über uns kommt. Es ist ein weiteres Globalisierungsphänomen wie multinationale Konzerne oder weltumspannende Finanzmärkte. Ein Phänomen, mit dessen Ausbreitung und Bedeutungszuwachs Politik und Gesellschaft Schritt halten müssen – oder besser: sich mit dem Kommenden jetzt auseinandersetzen und es mitgestalten müssen.

Der „Spiegel“ hat dies unlängst versucht. Unter dem Titel „Netz ohne Gesetz“ widmete das Nachrichtenmagazin dem Internet eine Titelgeschichte – ein gutes Dutzend Seiten Defensive, auf denen so ziemlich alles Kriminelle und Schändliche über das Internet zusammengekehrt wurde, das sich aus den vergangenen Jahren in den Archiven fand. Dazu das bekannte Ensemble der Netzgeschädigten von „Zensursula“ von der Leyen, der Familienministerin, die sich mit der technisch untauglichen und rechtlich nicht durchsetzbaren Idee von Netzsperren gegen Kinderpornografie blamierte, bis zum Dog Shit Girl, jener Koreanerin, die ihren Hund in die U-Bahn scheißen ließ und dann per Video an den weltweiten digitalen Pranger gestellt wurde. Der „Stern“ wollte da etwas Netz-Euphorie entgegensetzen. Die Illustrierte zog nach mit einer reich bebilderten Ranschmeiße an die „Generation Facebook“, jene rund drei Viertel der insgesamt 40 Millionen deutschen Internetnutzer, die in sozialen Netzwerken digital kommunizieren.

Da bekennt sich dann die 16-jährige Hamburger Schülerin genauso zur Mitgliedschaft bei StudiVZ oder Facebook wie die Altgewerkschafterin Ursula Engelen-Kefer (66) – und macht ihre Ansichten und Vorlieben publik. Aus der Warnung, dass all dies im wahrsten Sinne des Wortes in aller Öffentlichkeit geschieht und sich zum Beispiel Arbeitgeber über Bewerber auch in Social Networks informieren, macht die „Tagesschau“ prompt einen großen Aufriss mit Tätern, Opfern und Experten, belegt mit entsprechenden Studien. Als ob sich dieser Sachverhalt mit ein bisschen Nachdenken nicht ganz von selbst erschlossen hätte.

Nachrichten aus einer fremden und seltsamen Welt

Solche Großrecherchen zum Thema Internet in den Mainstream-Medien wirken wie Expeditionen in eine fremde und seltsame Welt. Von den Ureinwohnern jener entlegenen Gebiete kommen entsprechende Reaktionen. Mit einem fetten „Häh?“ kommentierte der Blogger Thomas Knüwer den „Spiegel“-Beitrag. Der Ausruf steht für die Sprachlosigkeit, die zwischen Internet-Euphorikern und Untergangspropheten herrscht. Knüwer gehört zu den Unterzeichnern eines Internet-Manifests, das führende Blogger kürzlich veröffentlicht haben. Da stehen dann neben vielen bedenkenswerten Punkten auch wohlfeile Merksätze wie: „Das Internet ist anders“, „Das Internet ist der Sieg der Information“, oder: „Die Freiheit des Internet ist unantastbar.“

Doch längst wird der emphatische Freiheitsbegriff in Frage gestellt – nicht nur von Verlegern und Autoren, die ihre Urheberrechte gefährdet sehen, oder Gesetzgebern und Kriminologen, die gegen Pornografen, Hacker und Betrüger ankämpfen. Man müsse „von den Gurus des ‚Freien'' verlangen, jedes Mal, wenn sie die nächste kulturelle oder soziale ‚Freiheit'' schaffen, auch ein entsprechendes innovatives ökonomisches Modell zu liefern“, fordert der holländische Internet-Analytiker Geert Lovink. Statt sich immer wieder der eigenen „techno-libertären Haltung“ zu vergewissern, müsste eine Debatte über professionelle Standards, Zertifizierungen und Kodizes geführt werden.

Raus aus dem digitalen Ghetto

Lovinks Forderungen weisen in die Richtung eines bürgerlichen Internets, das sich größtenteils selbst reguliert – mit möglichst wenigen Verboten und Zwängen, aber mit nachvollziehbaren Regularien aufgrund von transparenten Kriterien, formuliert und beaufsichtigt von Institutionen, die sich die professionellen Akteure im Netz selbst zu schaffen haben.

Modelle hierfür kommen aus der analogen Welt: Berufsverbände mit ihren Satzungen, paritätisch besetzte Beiräte, freiwillige Selbstkontrolleure – all die wenig glamourösen, aber unverzichtbaren Mannschaftsspieler, die die pluralistische Gesellschaft am Laufen halten.

Das Netz ist zu wichtig, um es Experten und Alpha-Bloggern zu überlassen. Die Debatte über das Internet muss raus aus dem digitalen Ghetto. Rein in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft.

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