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Nahles

© Mike Wolff

Interview: Andrea Nahles: "Die Sozialdemokratie war zu unkritisch"

Mit dem Tagesspiegel spricht die SPD-Vizechefin Andrea Nahles im Interview über die neuen Chancen für ihre Partei in der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Hat die SPD Ihre Lektion aus der Krise gelernt, Frau Nahles?



Die SPD kann sich in ihrem Kampf für die soziale Marktwirtschaft und den handlungsfähigen Staat bestätigt sehen. Auch für strengere Regeln und mehr Transparenz auf den Finanzmärkten treten wir nicht erst seit gestern ein. Wenn jemand eine Lektion zu lernen hat, dann sind das CDU, CSU und die FDP, die Vorreiter für die entfesselten Märkte. Wohin das führt, sehen wir ja jetzt.

Wurde in der Ära Schröder nicht eine Fülle von Gesetzen auf den Weg gebracht, um den Finanzmarkt zu deregulieren?

Bei der Legendenbildung sollten wir genau bleiben: CDU, CSU und FDP wollten doch noch viel weiter gehen, nicht nur bei der Deregulierung der Finanzmärkte. Sie wollten den Kündigungsschutz abschaffen und die betriebliche Mitbestimmung schleifen, ihnen ging es darum, die Arbeitnehmer zu entrechten und den gesamten Staat zu schwächen.

Das heißt: Die SPD trägt Mitverantwortung, aber ohne sie wäre alles noch viel schlimmer gekommen?

Man muss Gerhard Schröders Amtszeit im historischen Kontext sehen. Es gab einen machtvollen neoliberalen Mainstream, an den Gerhard Schröder und Tony Blair Ende der 90er Jahre anknüpfen mussten. Es ist beiden in ihrer Regierungszeit aber nicht gelungen, die neoliberale Vormacht zu brechen.

Hat die Schröder-SPD es denn ernsthaft versucht?

Man darf nicht vergessen, dass um die Jahrhundertwende durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien nicht zuletzt aus den USA massive Veränderungen der Wirtschaft und der Finanzmärkte stattgefunden haben, auf die auch neue politische Antworten nötig waren. Aber wir haben nicht in aller Konsequenz erkannt oder nicht wahrhaben wollen, dass es mit einem an den USA orientierten Wirtschaftsmodell auf Dauer kein soziales Europa geben kann.

Ist diese Erkenntnis inzwischen Konsens in Ihrer Partei?


Dass Märkte ohne Grenzen den meisten Menschen eben nicht zu Gute kommen, zeigt die Wirtschaftskrise in aller Brutalität. Was wir noch leisten müssen ist eine tiefer gehende Debatte darüber, in was für einer Gesellschaft wir zukünftig leben wollen. Wir dürfen es nicht nur beim Krisenmanagement belassen. Ziel ist nicht die bombige Rendite für wenige, sondern eine gutes Leben für alle.

Zehn Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier haben Sie jetzt zusammen mit dem Labour-Politiker Jon Cruddas ein Grundsatzpapier verfasst, in dem Sie als Alternative zum Dritten Weg die „Gute Gesellschaft“ postulieren. Was haben wir uns darunter vorzustellen?

In der Guten Gesellschaft wie wir sie anstreben, wird der Kapitalismus sozial reguliert. Er ist in einer dienenden Funktion und nicht der eigentliche Entscheider. Letztlich muss die Wirtschaft demokratisiert werden, damit sie dem Allgemeinwohl verpflichtet bleibt. Das kann durch mehr Mitbestimmung und einen verbesserten öffentlichen Sektor eingeleitet werden.

Das Papier liest sich passagenweise wie eine Abrechnung mit Schröders Modell der „Neuen Mitte“ und seiner Agenda-Politik.

Es geht nicht um Abrechnung, sondern um einen Aufbruch. Dabei darf man die Fehler der Vergangenheit nicht verschweigen. SPD und New Labour standen dem globalisierten Kapitalismus zu unkritisch gegenüber und haben die Spaltung der Gesellschaft nicht eindämmen können. Was diese ganzen Debatten um die Agenda 2010 angeht: Sie darf uns aber nicht daran hindern. Die Agenda war in Teilen gut, in anderen weniger. Vor allem aber ist sie Teil des letzten Jahrzehnts, wir stehen am Beginn eines neuen. Die Vergangenheit darf uns nicht daran hindern, an diesem historischen Wendepunkt neue Wege zu gehen.

Bietet die Krise der SPD nach jahrelangem Richtungsstreit um Schröders Reformkurs die Chance zur Versöhnung mit sich selbst?

Dieser Prozess der Verständigung ist im Gang. Wir finden zu einem neuen Konsens über Werte und Grundlagen unserer Politik. Es besteht zum Beispiel Einigkeit darüber, dass es zwischen den zehn Prozent der Bevölkerung, die über 60 Prozent des Vermögens verfügen, und dem weniger begüterten Rest einen fairen Lastenausgleich geben muss.

Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück stellen heute Forderungen, für die sie die SPD- Linke früher verlacht haben, etwa nach einer Börsenumsatzsteuer. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?

Ich bin froh, dass das alte Lagerdenken angesichts der außerordentlichen Ereignisse aufbricht. Nicht nur in Deutschland kann man das sehen. Die Sozialdemokraten finden jedenfalls in der Krise zu einer Geschlossenheit von der die Konservativen nur träumen können.

Rückt die Krise die SPD nach links?

Ich würde sagen: Die SPD kommt wieder bei sich selbst an. In diesem Krisen- und Wahlkampfjahr wird es vor allem um das Thema Arbeit gehen. Und dabei wird die Aufteilung in Befürworter und Gegner der Hartz-Reformen keine Rolle mehr spielen. Wir sind gemeinsam am Ball wenn es um die Bewältigung der Krise geht.

Welche Akzente muss die SPD in ihrem Wahlprogramm setzen, um traditionelle Wähler zurückzugewinnen?

Die Menschen wollen in diesem Jahr von der SPD wissen, wie wir in der Krise die Arbeitsplätze sichern. Sie wollen außerdem, dass die hart arbeitenden Steuerzahler nicht allein die Folgen der Krise bezahlen. Sie erwarten von uns, dass wir verhindern, dass Spekulanten uns bei der nächsten Gelegenheit wieder ohne Rücksicht in den Abgrund reißen.

Wie wollen Sie die Reichen zur Kasse bitten?


Fest steht erstmal: Wer jetzt wie Guido Westerwelle nicht gegenfinanzierte Steuerentlastungen für alle verspricht, führt die Menschen an der Nase herum. Andererseits halte auch ich nichts davon, die Steuern für den Mittelstand und für die Geringverdienenden zu erhöhen. Aber diejenigen, die in den letzten Jahren massiv von den Spekulationsblasen profitiert haben und ihr Vermögen vergrößert haben, sollen einen höheren Beitrag zur Bewältigung der Krise leisten. Darüber sind wir uns einig. Nach Ostern werden wir wissen, ob dies über eine Anhebung der Reichensteuer oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer bewerkstelligt wird. Für mich ist wichtig, dass mit diesem Geld Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in die Bildung ermöglicht werden, auch dann wenn die allgemeinen Steuereinnahmen absehbar zurückgehen.

Was halten Sie von dem Vorschlag Ihres Fraktionskollegen Ludwig Stiegler, das Arbeitslosengeld I für Ältere noch einmal zu verlängern, damit sie in der Krise nicht in Hartz IV abrutschen?

Ich kann meiner Partei nur empfehlen, sich in diesem Jahr darauf zu konzentrieren, die Menschen in Arbeit zu halten. Wir können die Beitragsgelder der Bundesagentur für Arbeit nur einmal ausgeben. Deshalb sollten wir die Milliardenbeträge lieber in Kurzarbeit und Qualifizierung investieren und nicht in die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I. Priorität muss in diesem Jahr haben, dass die Leute gar nicht erst ihren Job verlieren. Da bin ich klar: Arbeit first.

Sollte für Hartz-IV-Empfänger das Schonvermögen ausgeweitet werden, damit sie nicht all ihre Ersparnisse aufbrauchen müssen?

Im Moment halte ich Veränderungen beim Schonvermögen nicht für dringlich. CDU und CSU blockieren das ohnehin. Mich ärgert momentan etwas anderes. Die Union verweigert eine kleine gesetzliche Klarstellung, die es auch Arbeitslosengeld II Empfängern zweifelsfrei ermöglichen würde, die Abwrackprämie genauso nutzen zu können wie alle anderen. Gerade nach der Verlängerung der Prämie bis Ende 2009 muss das jetzt endlich vom Tisch.

Auf Unverständnis in Teilen der SPD- Wählerschaft stößt auch die Privatisierung öffentlichen Eigentums, Stichwort Bahnreform. Wird es im Regierungsprogramm der SPD einen Kurswechsel geben?

Klar ist, dass die öffentliche Daseinsvorsorge für Sozialdemokraten von zentraler Bedeutung ist. Die Privatisierung der Bahn verfolgen wir nicht weiter. Das werden wir auch in unserem Wahlprogramm deutlich machen.

Frank-Walter Steinmeier führt seinen Vorwahlkampf als Autokanzlerkandidat. Kann die SPD mit der Rettung von Opel die Wahl gewinnen?

Darum geht es doch nicht. Opel müssen wir helfen, weil Opel Potenzial hat. Richtig ist aber auch, dass noch andere Betriebe kommen werden, die ebenfalls in Schwierigkeiten geraten werden oder es schon sind. Jeder Einzelfall muss geprüft werden. Es wird nicht leicht. Opel zu retten, ist für mich die richtige Entscheidung – wenn nötig, auch mit einer Staatsbeteiligung. Mich besorgt langsam aber sicher, wie sehr die CDU und CSU da zaudern. Es macht keinen Sinn, die Arbeitsplätze von 120 000 direkt und indirekt Betroffenen aufzugeben.

Die IG Metall verlangt eine Liste mit Unternehmen, die der Staat vor der Pleite unbedingt retten soll. Unterstützen Sie die Forderung?

Der Staat kann nicht allen Unternehmen in der Krise helfen, aber wir müssen dafür sorgen, dass industrielle Strukturen erhalten bleiben. Dazu wird es nötig, auch über Schwerpunkte zu reden. Eine Liste kann eine Diskussionsgrundlage dafür sein.

Mit wie vielen Arbeitslosen rechnen Sie im Sommer?


Ich weiß es nicht. Es werden deutlich mehr sein als heute.

Braucht Deutschland dann ein drittes Konjunkturpaket?


Ich halte nichts von Aktionismus. Wer jetzt neue Konjunkturpakete ankündigt, erzeugt Unsicherheit. Das zweite Konjunkturpaket muss erst einmal seine Wirkung entfalten können. Wir dürfen aber auch nicht alle Schotten zu machen. Ich halte es für möglich, dass wir im Sommer über das Kurzarbeitergeld reden und vielleicht eine weitere Verlängerung auf den Weg bringen müssen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir im Laufe des Jahres weitere Stabilisierungsmaßnahmen ergreifen müssen, insbesondere für den Mittelstand, um hier unter anderem eine ausreichende Liquidität sicherzustellen.

Kanzlerin Angela Merkel und die Union haben sich in den letzten Wochen schwere innerparteiliche Auseinandersetzungen geleistet. Dennoch profitiert die SPD in den Umfragen nicht. Woran liegt das?

Ich verlasse mich nicht auf Umfragen, sondern auf meine Nase. Und die sagt mir, dass wir von den Meinungsforschern deutlich unterbewertet werden. Wir werden in diesem Jahr Rückenwind kriegen. Dagegen befinden sich CDU und CSU in einer ideologischen Krise. Weite Teile haben in den vergangenen Jahren die Anpassung an eine Welt der freien, globalisierten Märkte gepredigt und wissen jetzt nicht weiter. Deshalb zerlegen sie sich an der Frage, inwieweit der Staat Unternehmen wie Opel helfen darf oder blockieren unsinnig, wenn es um die Zukunft der Jobcenter geht.

Glauben Sie, dass die fortwährenden Angriffe auf die Kanzlerin, mit denen sich insbesondere Franz Müntefering hervortut, bei den Wählern ankommen?


Ich habe keinen Anlass, am Verhalten von Franz Müntefering irgendetwas zu bemängeln.

Müntefering sagte neulich, angesichts Merkels Führungsschwäche wünsche er sich Gerhard Schröder als Kanzler zurück. Verspüren auch Sie Sehnsucht nach dem Basta?


Nö. Gerhard Schröder war ein guter Bundeskanzler, hatte eine gute Zeit, und er hat das Land auf gutem Kurs gehalten, als andere zum Beispiel außenpolitisch geirrlichtert haben. Aber als Kanzler wünsche ich mir Frank-Walter Steinmeier. Mit ihm kommt die neue Zeit.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Stephan Haselberger.

JUSO-CHEFIN

Andrea Nahles führte die Jusos von 1995 bis 1998. Den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder kritisierte sie als „Abrissbirne sozialdemokratischer Programmatik“.

AGENDA-KRITIKERIN

„Konzeptlos, perspektivlos, instinktlos“:

Als Wortführerin der SPD-Linken machte

Nahles Front gegen Schröders Agenda 2010.

SPD-VIZE

Im Oktober 2007 wurde sie auf Vorschlag des damaligen SPD-Chefs Kurt Beck zur Vizevorsitzenden gewählt. Auf dem Hamburger Parteitag setzte sie mit Beck eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere durch.

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