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© Mike Wolff

Interview: "Das ist Krieg, und unsere Soldaten töten"

EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann über Afghanistan, den Sinn von Steuern und die Sehnsucht nach Ritualen.

Frau Käßmann, seit Oktober stehen Sie an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. Welche Schwerpunkte wollen Sie in den nächsten sechs Jahren setzen?

Zum einen den innerkirchlichen Reformprozess stärker in den Gemeinden verankern und die Pfarrerschaft mehr dafür gewinnen. Auch halte ich die Ökumene in der säkularisierten Gesellschaft für ein wichtiges Thema, trotz der Spannungen der letzten Zeit. Außerdem müssen wir uns mit den sozialen Fragen beschäftigen.

Wo muss dringend gehandelt werden?

Am bedrückendsten ist die wachsende Kinderarmut und dass viele Kinder und Jugendliche selbst nicht mehr daran glauben, aus der Armut herauszukommen. Daher ist die Ganztagsschule wichtig, viel wichtiger als ein Betreuungsgeld. Das könnte eher ein Anreiz für manche Eltern sein, Kinder gerade nicht einer Bildungseinrichtung anzuvertrauen. In Deutschland ist immer noch die Fehleinschätzung verbreitet: Erst mit der Schule beginnt der Ernst des Leben. Das ist falsch, gerade für die Drei- bis Sechsjährigen ist Bildung enorm wichtig.

Was sind die Gründe für diese Fehleinschätzung?

Immer noch ist unser Betreuungs- und Bildungssystem darauf eingestellt, dass ein Kind um 13.30 Uhr nach Hause kommt, dass jemand gekocht hat und mit ihm Hausaufgaben macht. Dieses Familienbild entspricht nicht mehr der Realität.

Was kann die Kirche tun?

Die Kirchen als größter privater Träger von Kitas und Krippen werden in ihren Einrichtungen noch mehr Wert auf die Bildung legen. Aber wir erleben jetzt zum ersten Mal, dass uns Kommunen die Verträge kündigen, weil andere Anbieter uns bei der Bezahlung des Personals unterbieten. Ich finde es schwierig, wenn in einem so wichtigen Bereich der billigste Anbieter zum Maßstab wird.

In der Pflege ist das schon Realität.

Ja, leider. Ich wünsche mir, dass die abgeschlossenen Tarifverträge gezahlt werden. Aber immer mehr Heime sagen, dass sie das nicht können. Das ist dramatisch. Deshalb sollte es einen bundeseinheitlichen Tarif geben. Pflegekräfte müssen so bezahlt werden, dass sie ihre Arbeit mit Lust und Liebe machen können.

Wie weit wollen Sie den Unterbietungswettbewerb als Kirche mitgehen?

Wir sollten da nicht grenzenlos mitmachen und die Mitarbeiter dort so gut bezahlen, dass erfahrbar ist: In einem evangelischen Heim ist eine andere Zuwendung zu den Menschen spürbar. Zum Beispiel müssen für die „große Morgenwäsche mit Toilettengang“ mehr als die jetzt von der Pflegekasse vorgesehenen 23 Minuten zur Verfügung stehen.

Was kann die Kirche noch tun?

Wir sollten die Diakonie mehr an die Kirchengemeinden andocken. Wenn die Diakonieschwester einem Patienten nicht genügend Zeit widmen kann, kann das vielleicht ein Ehrenamtlicher in der Gemeinde übernehmen. Das heißt aber nicht, dass sich der Staat aus dem Pflegebereich herausziehen darf.

Aber dem wird das Geld immer knapper.

Deshalb verstehe ich nicht, warum jetzt Steuern gesenkt werden sollen. Hierzulande ist das Verhältnis zum Steuerzahlen extrem negativ, jeder Euro scheint zu viel. In den nordischen Ländern sind die Menschen eher stolz, so viel zu verdienen, dass sie das Gemeinwesen mitfinanzieren können.

Sind wir zu egoistisch?

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der viele erst einmal an sich denken. Etwas nicht leisten zu können, ist schwer vermittelbar. Das fängt schon in der Schule an: Jedes dritte Kind hat Angst, dem schulischen Leistungsdruck nicht gerecht zu werden. Psychopharmaka bei Schulkindern sind keine Seltenheit.

Was ist hier die Rolle der Kirche?

Die Aufgabe der Kirche ist es zu sagen: Du bist als Mensch vollwertig und hast deine eigene Würde, auch wenn du nicht vorne mit dabei bist.

Warum erreicht Ihre Botschaft immer weniger Menschen? 2008 sind 160 000 Menschen aus der Evangelischen Kirche aus- und nur 60 000 eingetreten.

Knapp zwei Drittel der Deutschen sind Mitglied einer Kirche. Im Vergleich zu den Mitgliedschaften in anderen Organisationen ist das sehr viel.

Aber die Entwicklung kann Sie nicht zufrieden stellen.

Besonders nicht, wenn Menschen austreten. Ich würde den Christen gern sagen: Es ist großartig, dass Ihr Mitglied seid! Nun seid es auch selbstbewusst. Zeigt, welche Haltung Ihr habt als Christen!

Hat Sie erstaunt, dass bei der Trauerfeier für Nationaltorwart Robert Enke alle das Vaterunser mitbeten konnten?

Es hat mich berührt. 6000 Fans, die das Vaterunser beteten. Wir brauchen eine Instanz in der Gesellschaft, die solche Orte, Rituale und Texte anbietet, die transzendent für das Göttliche sind.

Günther Beckstein, Vizepräses der Synode der EKD, hat gesagt, Deutschland müsse wieder Missionierungsgebiet sein. Teilen Sie diese Auffassung?

Die Frage ist, was wir unter Mission verstehen. Es ist wichtig, dass Menschen nicht verstecken, was sie glauben, wo sie stehen. Die Herrnhuter Gemeinde sagt: Mission bedeutet, dass du so lebst, dass andere dich fragen, warum du so lebst. Das scheint mir der richtige Ansatz.

Es gibt viele im Land, die gegen den Afghanistan-Einsatz sind. Wäre das nicht ein geeignetes Thema für die Kirchen?

Ich konnte die Beteiligung in Afghanistan noch nie nachvollziehen. Es geht doch darum, mit zivilen Mitteln Frieden zu schaffen, gerade in einem so gespaltenen Land.

Ist die Diskussion um die Bombardierung der Tanklaster für Sie ein Anlass, jetzt einen Abzug zu fordern?

Krieg zieht immer Unrecht und Gewalt nach sich. Es ist nicht überraschend, dass im Krieg Zivilisten getötet werden. Wir müssen offen mit der Wahrheit umgehen. Die lautet: Das ist Krieg, und unsere Soldaten töten auch Zivilisten.

Der Friedensnobelpreisträger Barack Obama will 2011 mit dem Rückzug aus Afghanistan beginnen. Hat er recht?

Einfach nur abzuziehen, kann nicht die Alternative sein. Die Menschen dort müssen dabei unterstützt werden, zivile Strukturen aufzubauen. Das geht aber nicht mit einem Konzept von außen, das muss sich in der afghanischen Gesellschaft entwickeln. Nehmen Sie die Frauen, denen man im Namen der Freiheit sagte: Legt den Schleier ab, dann wird alles gut. Die Realität vor Ort ist anders, das kann gar keine Frau wagen.

Der Umgang mit dem Islam gestaltet sich oft schwierig. Das hat auch die Abstimmung in der Schweiz über Minarette gezeigt. Hat Sie der Ausgang schockiert?

Nein. Wer so eine populistische Abstimmung zulässt, braucht sich über das Ergebnis nicht zu wundern. Die Angst vor dem Islamismus ist bei vielen sehr groß.

Woran liegt das?

Es dominiert ein Bild vom Islam, bei dem in seinem Namen Gottesstaaten errichtet werden und Frauen nur noch verschleiert herumlaufen dürfen. Dass das Angst macht, kann ich nachvollziehen. Aber der Großteil der Muslime in Deutschland ist sehr froh, in einem freien Land zu leben. Die Besonnenen im Land sollten differenzieren zwischen Islam und islamistischem Fundamentalismus.

Begrüßen Sie, dass Muslime hier repräsentative Moscheen bauen wollen?

Es ist gut, wenn Religionsausübung in der Öffentlichkeit stattfindet und nicht im Hinterhof, wo nicht transparent ist, was da vor sich geht. Ich wünsche mir, dass in Moscheen auch deutsch gesprochen wird und alle Freiheitsrechte unserer Verfassung bejaht werden.

Was meinen Sie damit?

Mir wurde gerade ein Kinderbuch aus einer Moschee zugeschickt, das Mädchen erklärt, was sie nicht dürfen und dass sie unrein sind. In unserer Verfassung steht, Mann und Frau sind gleichberechtigt. Wer Religionsfreiheit beansprucht, muss auch dieses Freiheitsrecht bejahen.

Gerade das Rigorose des Islam ist für manche aber offenbar auch attraktiv.

Manchen Menschen macht die Freiheit offenbar Angst. Sie suchen autoritäre Strukturen. Doch an der Freiheit müssen wir unbedingt festhalten. Frauen etwa haben hier so viele Rechte wie nie zuvor, das stört patriarchalische Strukturen.

Die orthodoxen Christen haben damit wohl auch ihre Probleme und wollen sogar die EKD-Chefin ignorieren.

Wenn die russisch-orthodoxe Kirche auf Leitungsebene mit der EKD sprechen will, kommt sie nicht an Frauen vorbei.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Juliane Schäuble, das Foto machte Mike Wolff.

BODENSTÄNDIG
Margot Käßmann wurde als jüngste von drei Töchtern eines Kraftfahrzeugschlossers und einer Krankenschwester in Marburg geboren. Von der Mutter hat sie Disziplin und Zielstrebigkeit geerbt, vom Vater Lebenslust und Humor.

BELIEBT Die kleine Frau spricht die Menschen mit ihrer offenen Art an wie kein anderer deutscher Bischof. Zu ihren Gottesdiensten kommen Tausende, auch bei den Katholikentagen füllt sie Hallen. Selbst ihre Scheidung 2007 hat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch getan.

EHRGEIZIG Dass ihr etwas verwehrt sein könnte, nur weil sie Frau ist, wollte Käßmann noch nie hinnehmen. Mit 25 Jahren fuhr die junge Theologin zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach Kanada – mit Kind, sollten die Herren denken, was sie wollten. Mit 41 Jahren und vier Töchtern wurde sie Bischöfin in Hannover, mit 51 Jahren vor kurzem Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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