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Romano Prodi

© AFP

Interview: "Europas Hymne ist mein Klingelton"

Italiens Premier Romano Prodi über Glanz und Elend eines Gipfels, verbohrte Briten und seine eigene Bitterkeit.

Das Interview mit dem italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi nach dem Brüsseler EU-Gipfel erschien am 24. Juni 2007 in der Zeitung "La Repubblica".

Wie ist Ihre Bilanz?

In vielen Jahren habe ich nie mit so schmerzhafter Klarheit gesehen, dass es zwei Europas gibt: Eines, das der Mehrheit, das an Europa glaubt und weiterkommen will; das andere, das es zum Ziel der nationalen Politik erklärt, die Rolle der Union zu verkleinern. Es ist ein Glück, dass diese beiden Europas trotz allem zusammen geblieben sind. Aber dass es sie gibt, macht mich tief traurig.

Herr Ministerpräsident, wenn man die triumphierenden Äußerungen der anderen europäischen Staats- und Regierungschefs hört, scheinen Sie der bei weitem wenigsten begeisterte zu sein. Wie kommt das? Sollten alle gewonnen haben, nur Italien nicht?

Im Gegenteil. Italien hat alle Ziele erreicht, die es sich gesetzt hatte. Und die zusätzlichen Nachtstunden haben es uns möglich gemacht, zugunsten Europas noch ein paar kleine, aber entscheidende Zugeständnisse durchzusetzen. Als Politiker kann ich also nicht anders als zufrieden sein. Als Europäer aber erlaube ich mir Bitterkeit angesichts des Schauspiels, das sich mir geboten hat.

Welches Schauspiel?

Das einiger Länder, die alle damit beschäftigt waren, Europa seinen wärmsten Zug zu nehmen: den des Herzens. Die Verbohrtheit Großbritanniens, das die Hymne nicht in den Vertrag geschrieben haben, das keine europäische Flagge wollte. Es ist klar, dass das alles keine direkte juristische Bedeutung hat und dass ein Land nach dem andern sich beeilte zu erklären, dass die Flagge weiter benutzt wird und dass man die Ode an die Freude weiter spielt. Aber die Erbitterung, mit der einige Regierungen jeden emotionalen Aspekt Europas verneinen, verletzt mich. Ich habe die Ode an die Freude als Klingelton auf dem Handy.

Welche Länder außer Großbritannien?

Mag sein, dass ich sie nicht alle präsent habe. Aber sicher Polen, Tschechien, auch Holland. Und dann sind es genau diese Regierungen, die Europa Bürgerferne vorwerfen. Aber wie soll man denn die Bürger erreichen, wenn man nicht ihre Gefühle anspricht? Wie sollen sie stolz darauf sein, Europäer zu sein, wenn man ihnen die Symbole dieses Stolzes nimmt? Dieser ganze Gipfel, der - ich wiederhole es - auf politischer, konkreter Ebene ein unzweifelhafter Erfolg ist, scheint mir von einer tief unpassenden Gegenströmung durchschnitten zu sein.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel schlägt Tony Blair eine Schlacht gegen die Grundrechtscharta, wo doch Europa als erstes von Großbritannien diese Rechte geschenkt bekam, angefangen bei der Magna Charta. Dann Kaczynski, der mir erklärt, dass er die italienische Position nicht teilen kann, weil , wie er sagt, unsere Länder verschiedene Völker hätten. Was soll das heißen? Wenn es zwei Völker gibt, die durch tiefe christliche Wurzeln verbunden sind, durch die lange Amtszeit eines polnischen Papstes, durch eine gemeinsame Geschichte von Leid und Unterdrückung und die nie gegeneinander Krieg geführt haben, dann sind das gerade Polen und Italiener. Und jetzt sollen wir im Namen Europas feststellen, dass wir verschieden sind? Soll das ein Witz sein? Die Geschichte scheint so unerbittlich auf diesen Ländern zu lasten, dass es ihnen nicht gelingt zu verstehen, dass die Größe Europas gerade darin liegt, dass man es als historische Herausforderung versteht - als dauerhafte Herausforderung.

Herr Ministerpräsident, Sie wollen uns nun nicht sagen, dass Sie gerade jetzt entdecken, dass es Euroskeptiker gibt. War das denn nicht immer so?

Nein, nicht in dieser expliziten Weise. Nicht derart programmatisch. So etwas konnte geschehen und geschah auch, wenn es um definierte Einzelfragen ging. Auf diesem Gipfel aber schien aus jeder Stellungnahme die Verkündung einer Doktrin zu werden. Das ist alles sehr traurig.

Kann denn ein solches doppeltes Europa bestehen bleiben?

Es kann und es muss. Auf diesem Gipfel konnte man trotz allem sehen, dass alle Gründe in Europa und die Solidarität für Gemeinsamkeit sprechen. Das müssen wir um jeden Preis erhalten, es ist ein unschätzbares Gut. Ich bin auch dann Europäer, wenn ich bitter bin. Wir müssen vorangehen. Der neue Vertrag gibt uns die Möglichkeit dazu.

Sie haben auch am Samstagmorgen zum Abschluss der Arbeit auf verstärkter Zusammenarbeit bestanden. Haben Sie konkrete Vorschläge?

Ja. Dieser Vertrag gibt Europa die Instrumente, die bisher fehlten. Aber es gibt nicht mehr den gemeinsamen Willen zum Fortschritt. Wie soll man es in dieser Situation also schaffen, voranzukommen? Ich glaube, wir brauchen jetzt eine Atempause, sagen wir etwa zehn Monate, weil vor allem anderen der Vertrag abgeschlossen werden muss. Danach müssen wir aber anfangen uns zu bewegen.

Ein konkretes Beispiel?

Über zwei Themen habe ich schon sowohl mit Sarkozy wie mit Zapatero gesprochen. Das erste wäre eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Euro-Ländern, um eine engere Abstimmung von deren Wirtschaftspolitik zu erreichen. Das andere ist eine gemeinsame Anstrengung in der Mittelmeerpolitik. Außer mit Franzosen und Spaniern stehen wir in Kontakt zu den Griechen, Maltesern, Zyprioten und Slowenen.

Kommen wir zu den konkreten Fragen. Welches Europa entsteht aus diesem Vertrag? Und sind Sie wirklich überzeugt, dass Sie alles erreicht haben, was Sie wollten?

Der neue Vertrag ist sicher ein Schritt zurück hinter die Verfassung. Und das wussten wir. Aber zweifellos ist er in jeder Hinsicht ein Schritt voran, wenn man ihn mit den bestehenden Verträgen vergleicht. Ich habe in meiner Rede vor dem Europäischen Parlament vier rote Linien im Hinblick auf die Verfassung gezogen: Es muss bei einer stabilen Präsidentschaft für die Union bleiben, einem Verantwortlichen für die Außenpolitik einschließlich gemeinsamem diplomatischen Dienst, bei der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen und dem Erhalt der Union als einheitlichem Rechtssubjekt. Das alles ist geblieben. Und in der nächtlichen Schlacht, die wir mit neun anderen Regierungen geschlagen haben, wurden schließlich noch Verbesserungen in einigen Details möglich.

Welche?

Wir konnten zum Beispiel den europäischen diplomatischen Dienst retten, den die Briten abschaffen wollten. Wir konnten die verstärkte Zusammenarbeit erleichtern. Es war möglich, die Rolle der nationalen Parlamente auszubalancieren, um die Autonomie der EU-Kommission zu erhalten. Wir haben mit harten Bandagen gekämpft, um den Primat des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht zu retten.

Und Sie haben gewonnen?

Nur teilweise. Weil nämlich dieses Prinzip, das Teil der Verfassung war, jetzt nur in einer beigefügten Erklärung enthalten ist und nicht, wie wir wollten, in einem Protokoll. In den aktuellen Verträgen ist es freilich nicht einmal erwähnt. Bisher war der Vorrang des Gemeinschaftsrechts lediglich Ergebnis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg.

Im entscheidenden Moment des Gipfels, während des langen Telefonats mit der polnischen Regierung in Warschau, waren Merkel, Blair, Sarkozy, Zapatero und Juncker im Raum. Sie waren nicht da. Haben Sie sich nicht an den Rand gedrängt gefühlt?

Überhaupt nicht. Schon deswegen, weil zu diesem Zeitpunkt schon alles entschieden war. Es ging nur noch darum, ein bisschen Theater zu machen und ich fand, dass es, um die Wahrheit zu sagen, etwas demütigend gewesen wäre, da zu stehen, sich den Telefonhörer reichen zu lassen und dann zwei Worte mit Kaczynski zu wechseln. Auch weil mir der Vorsitz beim Treffen im italienischen Saal mit den anderen acht oder neun Delegationen viel wichtiger schien, die später die Schlacht in der Nacht um die letzten Zugeständnisse führten. Das war es, was ich gemacht habe. Und rückblickend glaube ich, dass das richtig war.

Die Fragen an Prodi stellte Andrea Bonanni. Copyright: La Repubblica 2007. Übersetzung aus dem Italienischen: Andrea Dernbach

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