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Interview: "Ich glaube noch sehr an Amerika"

Ein Tagesspiegel-Gespräch mit Thomas L. Friedman, einflussreichem Außenpolitik-Kommentator der "New York Times" und Autor des Globalisierungsbuches "Die Welt ist flach"

Herr Friedman, Sie sind einer der einflussreichsten außenpolitischen Kolumnisten der Welt, besonders was den Nahen und Mittleren Osten betrifft. Mit all den Umwälzungen in dieser Region nach dem 11. September: Warum haben Sie dennoch beschlossen, eine Auszeit zu nehmen und über Globalisierung zu schreiben?

Weil ich nach Indien fuhr und feststellte, dass meine intellektuelle Software überaltert war. Ich war ein Fortran-Programmierer in einer Java-Welt. Ich verstand, dass ich weder ein guter Analyst des Nahen Ostens, noch Europas oder anderer Teile der Welt sein würde, wenn ich meine Software nicht auffrischen würde.

Die grundlegende Veränderung der Weltwirtschaft wurde durch den Fall des Eisernen Vorhangs ausgelöst. Sie aber schreiben in Ihrem Buch, dass wir etwa um das Jahr 2000 herum in eine Phase noch härteren Konkurrenzkampfes in der Welt eingetreten sind. Warum?

Im Jahr 2000 kamen drei Revolutionen zusammen, die die "flache Welt" geschaffen haben, mit Auswirkungen, die in gewisser Weise noch wichtiger sind als der Fall der Berliner Mauer. Denn in dieser Phase der Globalisierung geht es weniger um Staaten. Was diese flache Welt charakterisiert, sind die Möglichkeiten des Einzelnen, sich selbst zu globalisieren.

Was sind die Kräfte, die diese Einebnung der Welt bewirken?

Das erste ist der PC, er erlaubte es Einzelnen, Autoren eigener Inhalte in digitaler Form zu werden. Wir waren zwar Urheber eigener Inhalte schon seit der Steinzeit, als die Höhlenmenschen begangen, Zeichnungen in Felswände zu ritzen. Aber mit dem PC können wir nun eigene Inhalte - Worte, Fotos, Tabellen, Daten, Video - in digitaler Form, in Bits und Bytes, erstellen. Und wenn eigener Inhalt in digitaler Form vorliegt, kann er in viel mehr Arten verändert und geformt und auf viel mehr Wegen verschickt werden. Das passierte schon in den 80ern. Dann kam das Internet, was dazu führte, dass ich meinen Inhalt überallhin in die Welt schicken kann, ohne dass es mich irgendwas kostet. Dazu kam Ende der 90er die Work-Flow-Revolution im Bereich der Software, die dazu führte, dass jeder Computer und jede Software mit anderen kompatibel wurde. Diese drei Elemente kamen etwa im Jahr 2000 zusammen und schufen eine Basis für vielfältige Formen der Zusammenarbeit. Plötzlich konnten viel mehr Menschen miteinander konkurrieren, kommunizieren und zusammenarbeiten mit mehr anderen Menschen für weniger Geld und von mehr Plätzen in der Welt als jemals zuvor in der Geschichte. Das meine ich, wenn ich sage, die Welt ist flach.

Als die Deutschen im Jahr 2000 die Green Card für IT-Experten eingeführt hatten, waren Sie etwas überrascht darüber, dass so wenige im Ausland, etwa in Indien, das Angebot annehmen wollten. Liegt das an der flachen Welt?

Eine der eisernen Regeln der flachen Welt ist: Man kann innovativ sein, ohne deshalb auch gleich emigrieren zu müssen. Das gilt für die Inder genauso wie für die Deutschen. Es gibt aber noch einen anderen Grund, weil die Inder tatsächlich immer noch massenhaft in die USA kommen: Das hängt mit der Kultur der Innovation zusammen, die wir - im Gegensatz zu Deutschland - haben.

Sie preisen die Globalisierung für die Möglichkeiten, die sie besonders Entwicklungsländern verschafft. In Europa sieht eine Mehrheit die Globalisierung eher als Gefahr denn als Chance. Zu Recht?

Es ist eine Gefahr für jeden, der sich davor fürchtet, aber nicht für all jene, die sie akzeptieren. Ich bin ein technologischer Determinist. Ich glaube, wenn Leute Handys haben, die ihnen erlauben, für wenig Geld in der ganzen Welt zu telefonieren, dann werden sie es tun. Ob ich das mag oder nicht, das ist ganz egal. Heute haben wir Internet, und wenn das für einen Unternehmensgründer bedeutet, dass seine Kunden global sein werden, seine Lieferanten global sein werden und seine Anzeigenkunden global sein werden, dann heißt das eben: Er wird global sein. Die eiserne Regel der Globalisierung ist: Was immer getan werden kann, wird getan werden. Es gibt nur eine Frage für dich, Mr. Germany, Mr. America: Wirst du es tun, oder wird es dir angetan werden? Das ist die einzige Frage, die bleibt. Denke nicht, dass es nicht getan wird. Nicht, weil ich es sage, sondern einfach, weil es passieren wird, das ist die eiserne Regel der flachen Welt. Wie YouTube. Die Firma war nicht mal in der 2.0-Ausgabe meines Buches - und nun wurde sie für 1,6 Milliarden Dollar verkauft. Ein Unternehmen, dass absolut aus dem Nichts kam und zu einem Monster wurde, nur deshalb, weil es möglich war.

Sich auf diese neue Welt einzustellen mag den Jungen gelingen, was sagen Sie aber jemandem, der hier Waschmaschinen produziert, wenn sein Weltkonzern beschließt, dass das in Deutschland nicht mehr möglich ist? Ein älterer Arbeitnehmer wird keinen neuen Job mehr finden.

Ich sage immer: Wenn Pferde wählen könnten, hätten wir nie Autos bekommen. Es liegt in der Natur des technischen Fortschritts, dass Jobs auf diese Weise vernichtet werden. Eine Gesellschaft kann sich aber nicht darauf gründen, Jobs behalten zu wollen, die lieber woandershin gehen wollen. Gleichzeitig kann die Gesellschaft diesem Menschen aber auch nicht sagen: Sorry, dein Job wurde geschluckt, meiner nicht, Pech. Lern einfach, ein Computerprogrammier zu sein. Ich mag unser System: Es gibt die freie Marktwirtschaft, man lässt das System in Ruhe dabei, enormen Wohlstand zu schaffen, und dann besteuert man diesen Wohlstand und verteilt ihn neu. Ich sage diesem Menschen, der vielleicht 55 ist: Ich kann dir leider nicht helfen. Aber ich kann die Ressourcen des Staates dazu benutzen, deinen Frühruhestand abzufedern und ich kann garantieren, dass dein Kind sich nicht in derselben Zwangslage wiederfinden wird. Wer aber eine Mauer bauen will, wird damit sicherstellen, dass sich nicht nur der 55-Jährige Fabrikarbeiter in dieser Situation befindet, sondern irgendwann auch sein Kind. Und von diesen Ansätzen sehe ich in Ländern wie Deutschland zu viel.

Indien und China investieren viel Geld in die Forschung und die Ausbildung ihrer Spitzeningenieure. China ist heute die verlängerte Werkbank der Welt. Wird es in der nächsten Generation auch zum kreativen technologischen Gehirn der Welt werden?

Das ist unklar. Ich glaube noch sehr an Amerika. Das Weiße Haus ist heute komplett hirntot, da ist kein einziger Gehirnstrom mehr messbar. Im Kongress genauso. Aber Amerika ist heute lebendiger, als ich es jemals erlebt habe, weil wir diese wirklich flexible, freie Wirtschaft haben. Leute fragen mich: Thomas, bist du immer noch ein Freihandelsbefürworter? Ich sage: Jetzt bin ich ein radikaler Befürworter der freien Marktwirtschaft. Denn wenn alles das getan werden wird, was getan werden kann, dann wird die Gesellschaft der Gewinner sein, die ihrer Bevölkerung maximale Möglichkeiten eröffnet das zu tun, was getan werden kann. Die Leute sagten lange Zeit, das 19. Jahrhundert wurde von Europa dominiert, das 20. von Amerika und das 21. Jahrhundert wird China gehören. Ich sage: Oh oh, nicht so schnell. Ich bin nicht bereit, das 21. Jahrhundert irgendjemandem zu überlassen. Meine Großmutter in Minnesota sagte oft, wenn sie in ihrem Schaukelstuhl saß: Überlasse keinem Land das Jahrhundert, das Google zensiert. Das war nur eine kleine Bemerkung, die Großmutter zu machen pflegte, da draußen am Lagerfeuer in der Prairie.

Was raten Sie Ihren Kindern, was raten Sie den Deutschen, wie sie sich auf die neue Zeit vorbereiten sollen?

Als ich in den 50ern und 60ern in Minnesota aufwuchs, sagten meine Eltern immer zu mir: Tom, iss auf, weißt du nicht, dass Kinder in China und Indien hungern müssen? Heute sage ich zu meinen Töchtern: Mädels, macht eure Hausaufgaben, wisst ihr nicht, dass Kinder in Indien und China hungrig sind nach euren Jobs?

Ihr Buch kommt hier wenige Wochen nach Gabor Steingarts "Weltkrieg um Wohlstand" auf den Markt. Steingart wirft besonders China unfairen Wettbewerb vor, weil das Land Gewerkschaften unterdrückt und fundamentale Arbeits- und Umweltstandards missachtet und so seine Arbeitskosten niedrig hält. Sollten wir China und Indien zwingen, Standards einzuhalten?

Nein, die werden von selbst dahin kommen. Schauen wir uns erst einmal an, was China macht, auf einem Mikrolevel. Ein Mann klopft an Ihre Tür und sagt: Ich möchte Ihnen diese Turnschuhe verkaufen für weniger Geld als es mich gekostet hat, sie zu produzieren. Das klingt doch gut. Solch ein Wachstum ist aber nicht zu halten, es ist nicht nachhaltig. Schauen Sie, was China seiner Umwelt antut. Das Land wächst um zehn Prozent, verliert davon aber zwei Prozent für ausgefallene Arbeitstage, kranke Arbeiter, im Stau verloren gegangene Arbeitsstunden. Das kann man nur für eine bestimmte Zeit tun, dann beginnt das System zu implodieren. Und wir können das schon beobachten, von Korruption bis zur Umweltzerstörung. Was sagen die Chinesen also wirklich zu uns: Ich möchte meine Luft verschmutzen, meine Flüsse vergiften, meine Arbeiter krank machen und ich will dir diese Turnschuhe verkaufen für weniger, als die wirklichen sozialen Kosten ihrer Herstellung, während ihr eure Luft rein haltet, eure Arbeiter gesund, wenn auch mit weniger Arbeit. Da sage ich: Klar, ich kann gar nicht genug bekommen von diesen Turnschuhen, was kannst du sonst noch für mich herstellen? In der Zwischenzeit konzentriere ich mich auf andere Dinge. Es gab Zeiten in Deutschland, als man ausgebeutete Fabrikarbeiter hatte, Luftverschmutzung und unfaire Arbeitsgesetze und vielleicht die Briten oder irgendjemand anderes sich darüber beschwerte. Aber Deutschland hat sich davon befreit, als es sich entwickelte und die Wirtschaft wuchs. Gesellschaften entwickeln sich und sagen: Einen Moment, ich möchte mehr Freizeit, ich möchte Luft, die ich atmen kann. Und ganz nebenbei: Wissensarbeiter leben nicht an verseuchten Orten, sie leben gerne an schönen Orten.

Steingart schlägt eine neue Art von Protektionismus des Westens vor, jener Staaten, die grundlegende Umwelt- und Sozialstandards besitzen. Er sieht Angela Merkels Vorschlag einer Transatlantischen Freihandelszone als Möglichkeit, das zu erreichen. Könnte das funktionieren?

Ich bin für diese Freihandelszone. Ich sehe die EU als die Vereinigten Staaten von Europa und zwei Vereinigte Staaten sind besser als eine. Mein Vorwurf ist, dass wir nicht genug zusammenarbeiten. Ihr seid ein wenig links von der Mitte in der wirklichen Welt, wir ein wenig rechts von der Mitte, aber wir sind beide in der Mitte und haben dieselbe Infrastruktur und einen Rechtsstaat und teilen fundamentale Werte. Es gibt zu viel von diesen kleinlichen Konkurrenzkämpfen zwischen uns. Ich will China und Indien nicht isolieren, aber wenn wir zusammenarbeiten, dann ist das eine sehr mächtige Sache.

Sollte diese Freihandelszone auch für andere offen stehen und vielleicht so etwas werden wie Clintons "Klub der Demokratien"?

Ich bin für den EU-Beitritt der Türkei und ich glaube, solch ein transatlantischer Verbund sollte anderen offen stehen, solange wir das Niveau wirklich hoch halten und die Standards nicht verwässern. Ich würde auch Russland gerne darin sehen, aber ein Russland, das für freie Menschen, freie Märkte steht.

Das "globale Dorf" ist eine beliebte Metapher für das Zusammenwachsen der Welt. Es zeigt sich aber, dass dieses globale Dorf weit weniger Wärme und Zugehörigkeitsgefühl bietet als der alte Nationalstaat. Und so erleben wir in den letzten Jahren selbst im postmodernen Europa eine Rückkehr nationalistischer Gefühle. Unausweichliche Nebenwirkung der Globalisierung?

Die moderne Geschichte wird gekennzeichnet von einem Zusammenspiel zwischen sehr alten Impulsen und neuen, globalisierenden Kräften. Die Geschichte internationaler Beziehungen setzt sich aus der Spannung dieser beiden Elemente zusammen. Es gibt heute so viele Leute, die über internationale Beziehungen reden ohne irgendwelche Bezüge zu Wirtschaft, Technologie, Globalisierung, es geht nur um Lehren aus der Geschichte, über Perioden, was passierte und wieder passieren wird. Aber wenn man verstehen will, was heute passiert, warum China Taiwan nicht überfallen hat etwa, dann sollte man vielleicht auf die Globalisierung schauen, sie ist einer der Gründe dafür.

In den letzten Jahren wurde viel über amerikanischen Imperialismus debattiert. Ähnlich wie das British Empire im 18. und 19. Jahrhundert sichern die USA heute die wichtigsten internationalen Schifffahrtsrouten, die das Funktionieren der Globalisierung erst möglich machen. Was wäre mit der Weltwirtschaft, wenn die USA der Lasten dieser Ordnungsfunktion überdrüssig würde?

Ich bin einer, der an das Mantra glaubt, dass es kein McDonald's ohne McDonald Douglas gibt, einen unserer wichtigsten Hersteller von Kampfflugzeugen. Es gibt viele Leute, die sich über zu viel amerikanische Macht beschweren. Es wäre aber auch nicht gut, in einer Welt mit zu wenig amerikanischer Macht leben. Unsere Regierung macht manchmal furchtbar dumme Sachen, wir übertreiben und sind arrogant. Aber wollen Sie in einer Welt leben, die von China stabilisiert wird? Ich nicht. Ich möchte in einer Welt leben, die von einer Partnerschaft zwischen der EU und den USA stabilisiert wird, im Kern zumindest, danach kann man ja andere Partner hineinnehmen. Ich fürchte, und das hängt auch vom Ausgang der Irakkrise ab, dass wir uns auf eine Welt zu bewegen könnten mit zu wenig amerikanischer Macht. Und das ist eine Welt, die Sie nicht mögen werden.

Sie versuchen seit einiger Zeit, in Energiefragen eine fast grüne Politik in den Staaten populär zu machen. Ihre Argumente zielen aber weniger auf das Klima als auf die Geopolitik.

Das ist nicht die Energiekrise unserer Eltern. Das heißt, man kann auch nicht derselbe Grüne sein wie unsere Eltern. Es gibt vier neue Dinge. Erstens: Wir befinden uns in einem Kampf mit dem Terrorismus, mit Leuten, die unterstützt und finanziert werden von unseren Energieeinkäufen. Ich rede hier als Amerikaner: Wir finanzieren beide Seiten dieses Krieges, wir bezahlen die US-Armee, die Navy und die Airforce und den Marinekorps mit unseren Steuergeldern, und wir bezahlen Al Qaida, den Islamischen Dschihad, Iran und Sudan mit unseren Energieeinkäufen. Nun, wie dumm ist das? Wir befinden uns in einem Krieg und wir finanzieren beide Seiten. Zweitens: Die Welt ist flach und zwei Milliarden neue Konsumenten sind gerade auf das Spielfeld gelaufen und sie haben ihre eigene Version des amerikanischen Traums: ein Haus, ein Auto, ein Toaster, eine Mikrowelle und einen Kühlschrank. Wenn wir also keinen alternativen Weg finden, deren Zukunft mit Energie zu versorgen - jenseits von fossilen Energieträgern - werden wir diesen Planeten noch viel, viel schneller abbrennen, verschmutzen, aufheizen. Wir brauchen diese Alternativen noch viel dringender, als selbst Al Gore voraussagt. Und das bringt uns zu Nummer drei: Grüne Energie, saubere Technik wird die Wachstumsindustrie des 21. Jahrhunderts sein.

Eine Chance für Deutschland?

Die Frage ist, wird Deutschland diese Industrie dominieren, wird es Skandinavien sein oder die USA oder China oder Indien? Wer wird das .com des 21. Jahrhunderts dominieren? Denn dort werden die Arbeitsplätze entstehen. Und diese Industrie wird beherrscht werden von dem Land, das die innovativste Technologie haben wird, gekoppelt mit den besten staatlichen Regelungen. Denn Regierungen müssen weit gesteckte, strikte Rahmenbedingungen vorgeben und es dann dem Markt überlassen, diese Bedingungen zu erfüllen. Wir in den USA sind noch nicht besonders gut auf diesem Gebiet, weil wir diesen Rahmen nicht abstecken wollen.

Zumindest die einzelnen Bundesstaaten beginnen in den USA ja damit, Umweltregeln einzuführen.

Ja, aber wir sind noch nicht gut genug darin. Dabei geht es hier um die Wachstumsbranche des 21. Jahrhunderts. Und dann ist da noch der vierte Punkt: Die Gesetze der Petropolitik. Das erste Gesetz der Petropolitik lautet meiner Meinung nach, dass der Preis des Öls und der Fortschritt der Freiheit ein umgekehrt proportionales Verhältnis zueinander haben. Wenn der Preis des Öls steigt, verringert sich der Fortschritt der Freiheit in den Ölstaaten. In Russland, Venezuela, Nigeria kann man das beobachten. Als der Ölpreis bei 20 Dollar pro Barrel lag, forderte Iran einen Dialog der Kulturen, nun, bei 70 Dollar pro Barrel, sagt Iran, der Holocaust ist ein Mythos. Als der Ölpreis bei 20 Dollar lag, schaute George W. Bush in Wladimir Putins Seele und sah dort einen guten Mann, bei 70 Dollars schaut man in Putins Seele und sieht Gazprom, Yukos, und all die Zeitungen und NGOs, die er verschluckt hat.

Und Dinge wie den Mord an der Journalistin Politkowskaja.

Genau. Bei 20 Dollar pro Barrel war Hugo Chavez ein kleiner Schoßhund, bei 70 Dollar sagt er der Welt, sie soll sich verpissen. Daran sieht man, dass der Ölpreis und Freiheit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Wir dachten, als die Berliner Mauer fiel, dass das eine unaufhaltsame Welle von freien Märkten und freien Völkern auslösen würde. Und 15 Jahre lang war das auch so. Diese 15 Jahre fielen zusammen mit einer Periode, in der der Ölpreis zwischen 20 und 40 Dollar pro Barrel lag. Als wir dann in eine Periode mit einem Ölpreis zwischen 40 und 80 Dollar pro Barrel kamen, löste das eine Gegenwelle zum Fall der Berliner Mauer aus. Eine Gegenwelle von petroautoritären Regimen, in der Form von Russland, Venezuela, Iran, Sudan, Angola, Äquatorial-Guinea. Und diese Welle von Petroautokratismus vergiftet nicht nur die Innenpolitik, Beispiel Russland, sondern auch die internationalen Beziehungen. Warum stellt sich China gegen eine UN-Resolution, die einen bekannten Völkermord in Darfur beenden soll? Weil es 40 Prozent der größten Ölfirmen in Sudan besitzt. Aus all diesen Gründen wird klar, dass dies hier nicht die Energiekrise unserer Eltern ist, weshalb ich also in meiner NY-Times-Kolumne versuche, "Grün" neu zu definieren. Ich bin einer, der daran glaubt, dass man das besitzt, was man benennen kann. Wenn man ein Thema definiert, bedeutet das, sich dieses Thema auch anzueignen. Was die Grünen in den USA nicht verstehen, ist, dass ihre Gegner sie mit einem Label versehen haben. Sie nannten sie Linke, Baumumarmer, Memmen, effeminierte Männer, unpatriotisch und auf eine vage Art französisch. Was ich nun versuche ist, sie umzubenennen als geopolitisch, geostrategisch, geoökonomisch. Ich sage, dass Grün das Patriotischste, Geopolitischste, Geostrategischste, Geoökonomischste und Kapitalistischste ist, was man heute sein kann.

Warum machen Sie sich diese Mühe?

Ich will nicht nur Teil einer kleinen, eingeschworenen Gemeinde sein, Teil einer kleinen Boutique-Bewegung. Mir kommt es auf die Masse an. Wie kann man diesem grünen Konzept so viel Bedeutung verleihen, dass man wirklich etwas verändert?

Das würde bedeuten, grüne Anliegen von einer moralischen auf eine strategische Ebene zu hieven. Grüne haben aber normalerweise ein Problem damit, in Kategorien wie "nationalen Interessen" zu denken.

Dann werden sie scheitern. Mein Konzept von Geo-Grün ist ein anderes, und daran glauben auch Evangelikale und Konservative. Und trotzdem bleibt es ein grünes Konzept. Ich will das Klima genau so schützen wie die klassischen Grünen, nur will ich auch dafür sorgen, dass es tatsächlich passiert, es reicht mir nicht, mich moralisch überlegen zu fühlen. Deshalb kritisiere ich das traditionelle grüne Milieu sehr stark, das sich eben nicht neu definiert.

Was raten Sie also den europäischen, den deutschen Grünen?

Sie müssen verstehen, wenn sie einflussreich sein wollen, brauchen sie Masse. Sie müssen grüne Themen auf einer viel breiteren Ebene diskutieren, in rein wirtschaftlichen Begriffen etwa: Es geht um die deutsche Wachstumsbranche des 21. Jahrhunderts. In geopolitischen Kategorien: Es geht um die Frage, wie man die Gefahren für weltweite Stabilität bekämpft, ob es die vergiftete Politik Putins ist oder die vergiftete Politik von Al Qaida. Und es geht darum, wie man Freiheit verbreitet, wie man die schlimmsten autoritären Regime der Welt bekämpft. Die Grünen müssen sich dieser Herausforderung stellen.

Das Interview führte Clemens Wergin.

"Die Welt ist flach" ist bei Suhrkamp erschienen. Die englische Version des Buches steht seit mehr als 80 Wochen auf der "New York Times"-Bestsellerliste und wurde bisher 2,5-millionenfach verkauft. ()

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