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Auftritt und Abgang. Martin Schulz (l.) übernimmt auch den SPD-Parteivorsitz von Sigmar Gabriel.

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Update

Nach Verzicht auf SPD-Kanzlerkandidatur: Gabriel: "Wir wollen in acht Monaten nochmal überraschen"

Sigmar Gabriel verzichtet auf den Parteivorsitz der SPD und die Kanzlerkandidatur. Beide Aufgaben soll Martin Schulz übernehmen, während Gabriel Außenminister werden will.

SPD-Chef Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und schlägt den bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz als Herausforderer von Kanzlerin Angela Merkel vor. Schulz solle auch Parteichef werden, sagte Gabriel am Dienstag in der SPD-Fraktionssitzung in Berlin. "Weil er der bessere Kandidat mit den besseren Chancen ist", begründete Gabriel die Entscheidung am Abend auf einer Pressekonferenz. Über seinen Rückzug vom Parteivorsitz sagte er: "Ein Kanzlerkandidat ist nur glaubwürdig, wenn die Partei eine einheitliche Führung hat". Man wolle damit einen Fehler des vorherigen Wahlkampfs vermeiden. Er sei sich bewusst, dass diese Entscheidung überrascht habe. "Und wir haben uns vorgenommen, in acht Monaten noch einmal zu überraschen", sagte Gabriel. Dann findet die Bundestagswahl statt.

"Die Kandidatur ist eine außergewöhnliche Ehre, die ich mit Stolz und Demut annehme", sagte Martin Schulz am Abend. Er wolle einen Wahlkampf führen, der am Ende die SPD mit dem Auftrag ausstatte, das Land zu führen. Dabei sagte er vor allem den Populisten den Kampf und verwies auch auf die Geschichte seiner Partei. "Immer wenn die Demokratie gefährdet war, gab es eine Brandmauer und das war die SPD." Ein ausführlicheres Wahlprogramm wollte er am kommenden Wochenende seiner Partei vorlegen.

"Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD", hatte Gabriel zuvor im "Stern"-Interview gesagt. Mit seinem Teilrückzug verband Gabriel auch scharfe Kritik an der Bundeskanzlerin.

"Um einen Wahlkampf wirklich erfolgreich zu führen, gibt es zwei Grundvoraussetzungen: Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzen wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichendem Maße zu", zitierte der "Stern" vorab aus dem Gespräch mit Gabriel. "Nicht wenige hadern bis heute mit mir, weil ich damals mehr als 75 Prozent der SPD-Mitglieder davon überzeugen konnte, dass die SPD regieren muss, wenn sie den Mindestlohn, mehr Kitas, sozialen Wohnungsbau und nicht zuletzt mehr Chancengleichheit für Frauen durchsetzen wollte." Auch persönliche Gründe spielten bei seiner Entscheidung eine Rolle.

"Alle Umfragen haben gezeigt, dass die Menschen keine große Koalition mehr wollen", soll Gabriel in der SPD-Fraktionssitzung gesagt haben, wie Reuters unter Berufung auf einen Teilnehmer berichtet. "Für die stehe ich aber in den Köpfen der Menschen. Daher ist Martin Schulz der geeignete Mann."

Nicht nur gut befreundet, nun folgt auch der eine dem anderen nach: Sigmar Gabriel (links) und Martin Schulz.
Nicht nur gut befreundet, nun folgt auch der eine dem anderen nach: Sigmar Gabriel (links) und Martin Schulz.

© Clemens Bilan/AFP

Gabriel will auch sein Amt als Wirtschaftsminister niederlegen und Frank-Walter Steinmeier als Außenminister nachfolgen, noch ehe dieser zum Bundespräsident gewählt werde. Das kündigte er im "Stern"-Interview an. Die frühere Justizministerin Brigitte Zypries, derzeit Gabriels Staatsekretärin, soll ihrem bisherigen Chef als Wirtschaftsministerin nachfolgen. In einem Statement schrieb Gabriel: "Es braucht ... einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition. Und den repräsentiert Martin Schulz in der deutschen Öffentlichkeit mehr als jeder andere von uns."

Die Personalrochade dürfte ziemlich schnell vollzogen werden, wie der "Stern" vorrechnet. Das hängt mit dem Terminkalender des Bundestags zusammen. Nach der laufenden Sitzungswoche trete das Parlament erst wieder am 13. Februar zusammen - einen Tag nach der geplanten Wahl Steinmeiers zum Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Um eine Vakanz im Außenamt zu vermeiden, müsste Gabriel spätestens am Freitag dieser Woche den Amtseid als Außenminister ablegen, also am 27. Januar.

Gabriel: Merkel hat Spaltung riskiert wie niemand zuvor

In einer ersten Stellungnahme nach Bekanntwerden seines Abtritts kritisierte Gabriel Bundeskanzlerin Angela Merkel scharf. Der Vizekanzler sagte, die Politik Merkels und von Finanzminister Wolfgang Schäuble habe "entscheidend zu den immer tieferen Krisen in der EU seit 2008, zur Isolierung einer dominanten deutschen Außenpolitik und ... zur hohen Arbeitslosigkeit außerhalb von Deutschland beigetragen". Eine Folge dessen sei "die Stärkung anti-europäischer populistischer Parteien" gewesen. "Kein deutscher Bundeskanzler vor ihr hätte eine so große wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung riskiert", schrieb Gabriel weiter.

Die Reaktionen auf Gabriels Verzicht fielen gemischt aus. In der SPD kam die Entscheidung für Schulz gut an. Die Linken-Bundesvorsitzende Katja Kipping zeigte sich mit Blick auf den SPD-Kanzlerkandidaten skeptisch: "Ob Martin Schulz ein Zeichen für einen fortschrittlichen Politikwechsel wird, ist unbestimmt." Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, kommentierte den Rückzug von Gabriel mit den Worten: "Gabriel oder Schulz, das mag für manche spannend sein." Entscheidend sei aber, welche Inhalte die SPD in den nächsten Jahren umsetzen wolle, sagte Höhn dem Tagesspiegel. "Und das ist nach wie vor völlig unklar."

Gabriels Rückzug hatte zuerst der Mediendienst "Meedia" verkündet. Der Parteivorsitzende habe dem Magazin "Stern" in einem Exklusiv-Interview gesagt, dass er auf die Position des Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl im September verzichte, berichtete das Portal am Dienstagnachmittag.

"Meedia" berief sich auf die Titelseite der nächsten "Stern"-Ausgabe, die dem Dienst offenbar vorliegt. Sie ist mit "Der Rücktritt" überschrieben. Gabriel kündigt demzufolge gleichzeitig seinen Rückzug vom Parteivorsitz an und übt in dem Gespräch auch Kritik an Angela Merkel. Wegen der Brisanz der Nachricht werde der "Stern" schon am Mittwoch und nicht wie üblich am Donnerstag erscheinen.

Der 57-jährige Gabriel ist seit 2009 Chef der SPD. Der 61-jährige Schulz war seit 1994 im Europaparlament und zuletzt Präsident. Er schied Ende vergangenen Jahres aus diesem Amt aus. In der Bundespolitik ist er ein Neuling. Die Bundestagswahl findet am 24. September statt. (mit Reuters, dpa, AFP)

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