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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betrachtet beim Überflug mit einem Hubschrauber den Offshore Windpark Baltic 1 vor der Ostseeküste.

© Reuters

Interview mit Angela Merkel: "Ausbüxen gibt’s nicht mehr"

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt ihre ganz persönliche Energiewende, warum die Deutschen besonders fundamental über Kernenergie streiten und warum Deutschland auch mit mehr Windrädern ein schönes Land bleiben wird.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das schwerste Projekt Ihrer Amtszeit vor sich: die Energiewende. Ist Ihnen bewusst, dass Freund und Feind große Schwierigkeiten haben, da mitzukommen?

Es ist ein interessantes, spannendes und großes Projekt. Aber ich weiß nicht, ob es das schwerste ist.

Mit das schwierigste!

Natürlich hat das entsetzliche Unglück von Fukushima, dessen ganzes Ausmaß ja immer noch nicht abzusehen ist, uns vor eine unerwartete Situation gestellt. Daraus jetzt die nötigen Konsequenzen zu ziehen kann zum ersten Mal zu einem umfassenden Konsens in dieser Frage, zu einem Zusammenrücken der Gesellschaft führen, auch wenn einige Unterschiede bleiben.

Was war für Sie als Politikerin und als Physikerin das Unerwartete?

Ich habe persönlich nicht erwartet, dass das, was ich für mich bis dahin als ein theoretisches und nur deshalb verantwortbares Restrisiko gesehen hatte, Realität wird – und zwar in einem Hochtechnologieland wie Japan. Wie sehr aber auch ein Industrieland wie Japan, das an technischem Können, Disziplin, Ordnung, Gesetzlichkeit uns in nichts nachsteht, davon erschüttert werden kann und in welche Lage die Menschen dort gestürzt wurden – das ist das Einschneidende dieser Katastrophe. Ich weiß, dass andere Menschen vor solchen Gefahren durchaus gewarnt haben; für mich lagen sie für ein Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards bis vor Kurzem außerhalb dessen, was ich in meinem Leben erleben werde.

Was hat ein Physiker eher vor Augen, das Restrisiko oder die große Wahrscheinlichkeit, dass nie etwas passieren wird?

Die Frage muss anders gestellt werden. Jeder Mensch muss in seinem Leben Risiken eingehen. Auch die Teilnahme am Verkehr, wo ich jeden Tag überrascht werden kann, ist ein Risiko, das ich eingehe. Aber das Risiko bei der Kernenergie ist sowohl wegen der über Generationen reichenden zeitlichen als auch der über Ländergrenzen hinausgehenden räumlichen Auswirkungen, wenn das an sich Unwahrscheinliche doch eintrifft, ein völlig anderes. Hinzu kommt die Unsichtbarkeit, also Nichtfassbarkeit der Strahlung. Das Restrisiko der Kernenergie kann man deshalb überhaupt nur akzeptieren, wenn man überzeugt ist, es tritt nach menschlichem Ermessen nicht ein. Für mich ist infolge Fukushimas deshalb die Frage übermächtig geworden: Welche Alternativen hast du, um zu zeigen, dass man ohne das Restrisiko der Kernkraft leben kann?

In Japan haben ein Tsunami und ein Erdbeben zugleich dieses Restrisiko eintreten lassen. Halten Sie so etwas auch bei uns für denkbar?

Exakt mit diesen konkreten Ereignissen natürlich nicht. Denn man weiß ja, dass Japan erdbebengefährdeter ist als Deutschland. Man weiß, dass Japan anders als Deutschland schon unter Tsunamis zu leiden hatte. Man weiß, dass deswegen dort die Küstenregionen gefährdet sind, und trotzdem hat man dort Kernkraftwerke hingebaut. Wir in Deutschland brauchen vor einer exakten Wiederholung der japanischen Katastrophe bei uns natürlich keine Sorge zu haben. Aber wir haben dennoch allen Grund, zu fragen, ob sich auch bei uns unglückliche Umstände zu etwas Katastrophalem zusammenballen könnten: zivilisatorische Risiken, aber auch naturbedingte Ereignisse, verbunden etwa mit einem Stromausfall über längere Zeit, eine Verkettung also von Umständen, die nach menschlichem Ermessen und allen Wahrscheinlichkeitsberechnungen bis jetzt nach bestem Wissen und Gewissen ausgeschlossen wurde. Es geht also um die Belastbarkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen und Risikoannahmen. Deshalb haben wir eine Sicherheitsüberprüfung aller Kernkraftwerke angeordnet. Nach einem Ereignis der Größenordnung von Fukushima sehe ich mich außerstande, diese bei uns zuvor nur theoretisch ins Auge gefassten Verkettungen von Risiken einfach zu verdrängen und zu sagen, um die kümmere ich mich nicht.

Wo waren Sie am 12. März, wie haben Sie von der nuklearen Katastrophe erfahren?

Ich war in der Nacht vom EU-Rat aus Brüssel zurückgekehrt. Schon das Erbeben und die Bilder von der gewaltigen Flutwelle hatten mich tief erschüttert. Während der Sitzung des EU-Rates haben mich Mitarbeiter des Kanzleramtes über die dramatischen Ereignisse stets auf dem Laufenden gehalten, am Freitagabend hatte Japan ja den atomaren Notstand ausgerufen. Als ich Samstag früh aufstand, sah ich im Fernsehen Berichte von der Wasserstoffexplosion im Kernkraftwerk. Ich bin dann zu einer Wahlkampfveranstaltung nach Rheinland-Pfalz gefahren. Die Stimmung dort war sehr gedrückt. Alle standen unter dem Eindruck der vielen Todesopfer, der Zerstörung und eben auch der nuklearen Gefahr, die offenkundig wurde.

Sie haben sich gerade an die bedrückte Stimmung im Wahlkampf erinnert. Glauben Sie, den Deutschen wäre ein Festhalten an den verlängerten Laufzeiten vermittelbar gewesen?

Ich habe mich nicht gefragt, was vermittelbar ist, sondern ich hatte – wie viele andere mit mir – den Impuls, dass wir unsere Entscheidungen vom letzten Herbst und damit die Sicherheitsstandards in Deutschland noch einmal auf den Prüfstand stellen müssen. Vermittelbar ist es dann – das sage ich jetzt auch als Parteivorsitzende der CDU –, wenn wir nachweisen können, dass wir Wirtschaftlichkeit und Umweltfreundlichkeit vernünftig zusammenbringen. Die CDU hat mit der sozialen Marktwirtschaft schon einmal vermeintlich Unversöhnliches zusammengebracht, nämlich Kapital und Arbeit. Jetzt haben wir die Chance, auch die Verpflichtung, Wirtschaftlichkeit und Umweltfreundlichkeit unter der Leitlinie der Nachhaltigkeit zusammenzubringen. Es geht darum, unseren Anspruch als Industrieland in Einklang zu bringen mit unserem Ehrgeiz, eines Tages ganz auf die erneuerbaren Energien zu setzen. Wir werden es schaffen, viele dafür zu begeistern.

Sie hatten bei Ihrer Entscheidung zwei Landtagswahlen vor sich.

Richtig. Und wenn man – wie ich nach Fukushima – eine politische Position zu überprüfen und zu verändern hat, dann ist Wahlkampf auf der einen Seite eine ungünstige Zeit, weil natürlich sofort der Vorwurf gemacht wird, dass ich das jetzt nur mache, weil halt Wahlkampf ist. Das kann man nicht vermeiden, aber davor darf man auch keine Angst haben. Auf der anderen Seite aber ist es genau die richtige Zeit, weil man als Politiker auf all den Wahlkampfveranstaltungen mehr unter Menschen ist als sonst. Und da muss man einfach über die Themen sprechen, die alle gerade bewegen. Ich sage Ihnen, auch wenn ich das nie beweisen kann: Wäre kein Wahlkampf gewesen, hätte ich es genauso gemacht.

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Wäre das Wahlergebnis schlechter ausgefallen, wenn Sie es anders gemacht hätten?

Meine These ist: eher ja, aber das ist natürlich rein spekulativ, und das war es nicht, was mich angetrieben hat. Wahlkampf kann Politiker durchaus eher schneller dazu bringen, das Richtige zu tun, aber aus rein taktischen Gründen, also wenn sie gar nicht ehrlich gemeint gewesen wäre, hätte ich diese Entscheidung, die neue Ausrichtung der Energiepolitik vom vergangenen Herbst deutlich zu beschleunigen, nie getroffen, weil ich sie dann nie mit innerer Überzeugung hätte vertreten können. Ich bin nun über fünf Jahre Bundeskanzlerin – nein, so etwas scheidet für mich aus!

Wie haben Sie denn in diesem Zusammenhang den Namensbeitrag von Helmut Kohl am Tag vor der Wahl gelesen – der ja eine Aufforderung zum Festhalten an längeren Laufzeiten war?

Ich habe ihn als Unterstützung wahrgenommen.

(Interviewer lachen) Wie haben Sie dieses Wunder der Wahrnehmung vollzogen?

(lacht nicht) Ich habe nachgeschaut, ob das Wort »Brückentechnologie« vorkommt. Es kam vor. So war ich zufrieden. Schauen Sie, die Volkspartei CDU ist vielleicht diejenige Partei, die in dieser Frage die größte Spannbreite von Meinungen hat.

Der Riss geht quer durch CDU und CSU.

Ja. Die Grünen haben damit kein Problem, für sie ist die Sache klar, das Thema ist ein Gründungsimpuls dieser Partei. Bei uns stellen sich viele die Fragen: Kann Deutschland es schaffen? Ist es wirtschaftlich? Trägt das Vertrauen in die erneuerbaren Energien? Deshalb wird es in den kommenden Wochen wichtig sein, diese Bedenken ernst zu nehmen und darauf Antworten zu finden.

Sie haben ja zwei Wenden in der Atomenergie vollzogen, erst eine Verlangsamung des Ausstiegs und jetzt eine Beschleunigung des Ausstiegs. Sie haben im letzten Herbst zur Laufzeitverlängerung gesagt, dass die Kernenergie nicht länger als »unbedingt notwendig« laufen solle. Damals waren für Sie aber viel längere Laufzeiten »unbedingt notwendig« als heute. Wieso?

In der Tat: Wir haben gesagt, auch wir steigen aus der Kernenergie aus – dieser Konsens, den es in Deutschland gibt, wird oft übersehen –, allerdings später als bei Rot-Grün, deshalb die Laufzeitverlängerung. Das unterscheidet uns Deutsche von weiten Teilen Europas: Wir bauen keine neuen Kraftwerke. Wir steigen aus. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen.

Unser Energiekonzept vom Herbst hat eine klare Zielsetzung: Deutschland soll konsequent den Weg in die erneuerbaren Energien gehen. Nur so lange, wie sie auf diesem Weg notwendig ist, soll die Kernkraft noch eine Rolle spielen. Wir haben also ein in sich schlüssiges Konzept erarbeitet. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Wir haben im Herbst einen durchaus machbaren Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien beschrieben – und damit schon weit mehr getan als Rot-Grün damals.

Ein bequemer Weg!

Nein, das im Herbst formulierte Ziel, im Jahr 2050 80 Prozent unseres Stroms aus Erneuerbaren zu beziehen, ist schon sehr ambitioniert, man darf sich da keinen Illusionen hingeben. Aber gemessen an der Entschlossenheit heute, war es damals ein, sagen wir mal, ruhigerer Weg, zurückhaltender.

Sie haben in jenem Herbst auch gesagt, man dürfe aus der Atomenergie nicht vorzeitig »aus ideologischen Gründen« aussteigen. Sind Sie jetzt die Ideologin, oder waren Sie es damals?

Wäre ich das jemals gewesen, dann hätte ich in den neunziger Jahren schon als Umweltministerin keine Energiekonsensgespräche mit dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder führen können, die damals übrigens auch nicht an uns beiden gescheitert sind. Dennoch: Die Auseinandersetzung um die Kernenergie hatte in Deutschland schon lange auch eine fast kulturelle Dimension, da standen sich Parteien und Milieus fast unversöhnlich gegenüber. Ein unguter Zustand, zu dem alle Seiten ihren Beitrag geleistet haben.

Kernkraftgegner haben gesagt, sie wollten mit diesem Restrisiko nicht leben, haben sich aber immer sehr darauf konzentriert, den Ausstieg umzusetzen, und die Frage, wie man in eine bessere Energieversorgung einsteigt, schleifen lassen. Auch über das Problem, dass man möglicherweise aus dem Ausland Strom, auch Strom aus Kernkraft importieren muss, haben sie zu sehr hinweggesehen. Uns dagegen haben viele im Herbst nicht abgenommen, dass wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien wirklich erreichen wollen, weil die öffentliche Diskussion nur um die Frage »Verlängerung, ja oder nein?« kreiste und es uns nicht gelungen ist, mehr Augenmerk auf die anderen wesentlichen Elemente des Energiekonzepts zu lenken.

Interessanterweise werfen andere, die immer einen schnellen Ausstieg verlangt haben, plötzlich Fragen auf, die sie sich selbst bis dahin gar nicht gestellt haben. Sie mahnen nun, wir sollten aufpassen, dass der Strom bezahlbar bleibt. Das war für die Union immer schon ein zentraler Gedanke. Dieser ganze Prozess führt nun vielleicht dazu, dass die Gesellschaft den Ausstieg als gemeinsame Anstrengung annimmt und auch Nachteile – siehe Netzausbau, siehe Speicherwerke, siehe Windmühlen im Landschaftsbild – in Kauf nimmt, weil wir uns alle gemeinsam auf einen ehrlichen Weg machen müssen.

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Bevor wir uns der Zukunft zuwenden, wollen wir noch ein paar Minuten nachtragend sein.

Bitte!

Haben Sie, als Sie die Bilder von Fukushima gesehen haben, die Laufzeitverlängerung bereut?

Nein, ich spürte aber sofort, dass das, was ich damals aus Überzeugung vertreten habe, auf den Prüfstand muss. Wir haben über die Laufzeitverlängerung jahrelang gesprochen – im Übrigen auch im Wahlkampf –, es konnte also keiner überrascht sein, dass wir das getan haben. Ich habe, wie gerade dargestellt, schon im Herbst bedauert, dass wir nicht ausreichend deutlich machen konnten, dass es uns wirklich um einen konsequenten Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien geht. Gerade auch als ehemalige Umweltministerin habe ich das bedauert. Andere haben uns den Vorwurf gemacht, wir würden den Energieversorgungsunternehmen einen Gefallen tun, damit die möglichst viel erlösen.

Und das stimmte gar nicht?

Das hat nie gestimmt. Durch unser Energiekonzept wurden die Energieversorgungsunternehmen erheblich belastet. Ihre wirtschaftliche Lage ist im Übrigen nicht so exorbitant gut, dass sie jede Belastung schultern könnten. Wir haben schließlich ein Interesse an erfolgreichen großen heimischen Energieerzeugern; die Stadtwerke alleine werden es nicht schaffen.

Es entstand auch der Eindruck, dass Sie bei Ihrer Entscheidung unter Druck gesetzt wurden.

Ein falscher Eindruck, niemand setzt mich unter Druck.

Mehrere namhafte Wirtschaftsvertreter und andere Prominente veröffentlichten damals eine Anzeige, um die Verlängerung der Laufzeiten zu unterstützen. Haben Sie das als hilfreich empfunden?

Nein. Wenn ich so große Anzeigen sehe, bin ich eher traurig über das ausgegebene Geld, weil ich als Parteivorsitzende aus Wahlkämpfen weiß, wie viel das kostet. Als hilfreich habe ich sie nicht empfunden.

Sie haben im vergangenen Herbst auch gesagt, sowohl die Atomenergie als auch Kohlekraftwerke sind Brückentechnologien. Jetzt soll die Brücke der Atomenergie verkürzt werden. Muss dadurch die Kohlebrücke verlängert werden? Und was sagt die Klimakanzlerin dazu?

Wenn wir nun schneller aus der Kernenergie aussteigen, dann wird sich zeigen, dass wir Ersatzkraftwerke brauchen, nach meiner Meinung vornehmlich Gaskraftwerke. Auf jeden Fall werden wir hoch effiziente Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen benötigen. Das verändert unsere CO₂-Bilanz, was wiederum bedeutet, dass wir Wege finden müssen, um an anderer Stelle mehr einzusparen, um das auszugleichen. Wir müssen die Gebäudesanierung schneller vorantreiben und die Energieeffizienz unserer Produkte und unserer ganzen Wirtschaft noch rascher verbessern, um diese zusätzlichen CO₂-Emissionen anderswo einzusparen.

Die Zahl steht: neun bis zehn neue Kohlekraftwerke in den nächsten zwei Jahren.

Das haben die Unternehmen und der Markt zu entscheiden und teilweise schon entschieden. Bei künftigen Festlegungen über Kraftwerksprojekte spricht vieles auch für Gas: Gaskraftwerke können am schnellsten gebaut werden, sie sind flexibel als Ergänzung erneuerbarer Energien einsetzbar, und Gaskraftwerke haben weniger CO₂-Emissionen.

Sehen Sie das Klimaziel für 2020 gefährdet?

Nein, das müssen und werden wir schaffen. Wir schalten ja ganz sicher nicht alle Kernkraftwerke sofort ab. Danach erst stellen sich die entscheidenden Fragen, die Schwierigkeit wird also sein, von etwa 2020 bis 2035 oder 2040 zu kommen.

Wie stellen Sie sich die Lastenverteilung dieser Energiewende vor: mehr zulasten des Verbrauchers oder des Steuerzahlers?

Jeder Steuerzahler ist auch Verbraucher, nicht alle Verbraucher sind Steuerzahler. Wir haben uns schon vor Jahren entschieden, dass wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz alle Verbraucher in die Lastenverteilung einbeziehen. Gerade zwischen 2009 und 2011 gab es einen großen Sprung in der Umlage, die durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz entstand, nämlich von knapp 1,5 Cent auf über 3 Cent pro Kilowattstunde.

Die Frage nach den Kosten beschäftigt die Menschen sehr. Wann können Sie ihnen greifbare Zahlen nennen?

Bald. In der Wirtschaftskrise hatten wir einen Ölpreis von 50 Dollar je Barrel, in den letzten Wochen lag er wieder zwischen 120 und 130 Dollar. Mit diesen Schwankungen leben die Menschen heute schon. Sie werden auch mit den Schwankungen beim Strompreis leben müssen, die sich aus veränderten Restlaufzeiten von Kernkraftwerken ergeben.

Wird es ein schöneres Land sein, mit neuen Stromtrassen, wärmegedämmten Häusern und vielen hohen Windrädern?

Im Vergleich zur Zeit vor 20, 30 Jahren ist unser Land doch an vielen Stellen schöner geworden. Damals waren viele Flüsse vergiftet, heute baden und fischen die Menschen wieder in ihnen. Die Industrie arbeitet insgesamt viel umweltschonender, nicht nur in meiner ostdeutschen Heimat, dort ist der Unterschied natürlich frappierend. Also wirklich: Ich glaube nicht, dass unser Land viel weniger schön wird, nur weil wir Energie anders produzieren und den Strom auch durchleiten müssen.

Das sagen Sie, obwohl Sie in Ihrem Heimatland so schöne Landschaften vor Augen haben.

Mecklenburg-Vorpommern hat 1 Prozent seiner Fläche für Windenergie ausgewiesen, 99 Prozent also nicht. Natürlich sieht man diese Windräder zum Teil schon von Weitem, in meinem Wahlkreis stehen zum Beispiel besonders viele. Aber man kann die zusätzlichen teilweise entlang der Autobahnen, der großen Verkehrstrassen bauen. Hochspannungsleitungen können vielleicht zum Teil entlang der Eisenbahnstrecken geplant werden. Daran wird unser Land nicht zerbrechen, und es wird noch immer schön sein.

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Wir könnten stundenlang zuhören, wie Sie die Härten der Energiewende vertreten! Geschmacksfragen sind da nicht so wichtig?

Selbstverständlich ist der Erhalt der Schönheit unserer Landschaft wichtig, aber die Diskussion ist nicht neu. Denken wir nur daran, was los war, als vor 150 Jahren plötzlich die Eisenbahnen zu rattern begannen. Da sahen manche auch das Ende gekommen. Jede Generation hat die Aufgabe, die Infrastruktur der Zukunft möglich zu machen. Auf der anderen Seite bauen wir heute auch Industriebauten wieder zurück. Kohlezechen sind heute Kulturstätten, und manch altes Tagebaugebiet dient der Naherholung.

Sie verteidigen diesen Weg ganz anders, als Grüne das machen. Die Grünen sagen: Es wird alles ganz schön, und Sie sagen: Stellt euch nicht so an! Ist das die Merkelsche Energiewende?

Ich sage nicht: Stellt euch nicht so an. Ich lese jetzt von Designerwettbewerben um schöne Hochspannungsleitungen. Damit will ich nicht kommen, ich versuche, die Aussichten ganz realistisch zu beschreiben. Ja, es wird sich mancherorts etwas ändern. Mancher wird erleben, dass in der Nähe seines Wohnorts eine Leitung gebaut wird, wo vorher keine war. Das hat es zu allen Zeiten und in vielen Formen gegeben. Bei dem einen wird eine Straße gebaut, bei dem anderen eine Fabrik. In Berlin entsteht gerade ein Flughafen neu. Wir Politiker haben die Pflicht, gut zu begründen, warum das manchmal nötig ist, wir müssen auf die Fragen der Menschen Antworten haben.

Planen Sie eine verbindliche Laufzeit für jedes einzelne AKW?

Es gibt die Möglichkeit, die Summe an Kilowattstunden festzulegen. Es gibt die Möglichkeit, die Restlaufzeit in Jahren festzulegen. Und es gibt die Möglichkeit, diese beiden Varianten zu mischen. Wir haben das noch nicht entschieden.

Wie wollen Sie die Endlagerfrage lösen? Wollen Sie außer in Gorleben noch woanders bohren? Erwarten Sie mehr Kooperation von Baden-Württemberg zum Beispiel?

Ich denke nicht, dass man jetzt überall parallel bohren sollte. Das wäre Unsinn. Die Endlagerfrage kommt auf den Tisch, wir werden über sie sprechen, wenn das neue Energiekonzept steht. Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass es nicht dadurch leichter wird, dass man die Last der Suche und Erkundung auf fünf Orte verteilt.

Was nutzt dieser ganze schöne Ausstieg, wenn wir umringt sind von Ländern, die die Kernenergie weiter ausbauen?

Eine sehr berechtigte Frage, zumal in einem europäischen Binnenmarkt: Was nützt es Deutschland, wenn es sich nach seiner Überzeugung richtig verhält, und alle anderen tun es nicht? Wenn ich jedoch zuallererst danach frage, ob auch alle anderen von meiner Haltung überzeugt sind, oder wenn ich nur an die anfänglichen Nachteile meines eigenen, von mir für richtig erachteten Verhaltens denke – dann drehen wir uns im Kreis.

Als in Deutschland Bertha Benz mit dem ersten Automobil über die Straßen gerumpelt ist, haben auch viele Zeitgenossen gesagt: So ein Quatsch, die eine Pferdestärke einer Kutsche reicht doch, und wer weiß, wie gefährlich diese neue Erfindung ist. In ihren Augen war Bertha Benz eine Geisterfahrerin auf einem seltsamen Sonderweg – aber das Auto hat sich durchgesetzt. Deutschlands Wohlstand gründet sich auch darauf, dass wir manchmal als Erste einen neuen Weg gegangen sind. Als ich 1994 Umweltministerin wurde, kamen 4 Prozent unserer Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen. Heute sind wir bei 17 Prozent. Das ist schon beachtlich. Jetzt wollen wir bis 2020 auf 40 Prozent kommen, was sehr ambitioniert ist. Das wird uns Kraft kosten. Aber wenn wir glauben, dass wir Vorteile davon haben, und das ist ja offensichtlich, dann ist das zu schaffen.

Unser Sonderweg ist also eine Avantgarderolle?

Es gibt eine ganze Reihe europäischer Länder, die nicht auf Kernkraft setzt. Deutschland hat immer einen Energiemix gehabt. Bei uns macht die Kernenergie ein Fünftel aus. Wenn man die Diskussion verfolgt, denkt man manchmal, wir bezögen 80 Prozent aus Kernenergie. Das ist ja gar nicht der Fall.

Aber keiner hat so radikal und schnell reagiert wie Deutschland.

Das ist richtig.

Wie kommt das?

So fundamental wie bei uns wird fast nirgendwo sonst über Kernenergie diskutiert. Hier ist eine ganze Partei darüber entstanden.

Sind die Deutschen so ängstlich wegen des Restrisikos, oder sind sie nur mutig genug, neue Wege zu gehen?

Jedes Land diskutiert bestimmte Fragen sehr gründlich. In den Debatten über die Solidarität in der Euro-Zone und die Stabilität unserer Währung stelle ich auf europäischer Ebene Fragen, die sonst kaum einer stellt und die manche wohl auch manchmal anstrengend finden, die sagen dann, das sei schon wieder so eine Merkel-Idee. Das ist vielleicht eine Kehrseite unserer Präzision und unseres Erfindungsgeistes.

Ich werde darauf achten, dass wir den richtigen Weg finden, unsere Energie zu erzeugen, einen Weg, der zu einem ökologisch denkenden Industrieland und einer bedeutenden Wirtschaftsmacht passt. Dieser Weg ist dann aber auch eine Verpflichtung. Dann kann nicht jeder kommen und sagen: So viele neue Leitungen wollen wir nicht, und die Windenergie passt uns eigentlich auch nicht, die Umlage für die Photovoltaik ist eh zu hoch, und gegen den Anbau von Pflanzen zur Energieerzeugung bin ich aus Prinzip auch, aber aus der Kernenergie müssen wir sofort raus.

Einen Ausstieg mit Augenmaß zu schaffen ist die große Herausforderung im Augenblick. Wir müssen in den nächsten ein, zwei Monaten alle sagen: Dazu stehen wir! Ein Ausbüxen gibt’s jetzt nicht mehr.

Quelle: "Zeit Online"

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