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Christian Schwarz-Schiling vertrat von 2006 bis 2007 die Internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina.

© Kai-Uwe Heinrich

Interview mit Christian Schwarz-Schilling: „Es wäre zu verhindern gewesen“

Christian Schwarz-Schilling über die Massaker und Bosniens Gegenwart.

Herr Schwarz-Schilling, 20 Jahre nach Srebrenica und dem Abkommen von Dayton – ist Bosnien zur Ruhe gekommen?
Überhaupt nicht. Ein Land, das praktisch keines seiner Kriegsverbrechen und seiner Völkermordprobleme umfassend aufarbeiten konnte, weil es keine Kapitulation und keinen tatsächlichen Frieden gab, sondern „nur“ eine Beendigung der Gewalt, kann nicht zur Ruhe kommen. Alle waren damals dabei, auch die Schurken; in Dayton saßen die Kriegsverbrecher mit am Tisch. Es war nicht wie in Deutschland nach dem Krieg, als die Alliierten in den Nürnberger Prozessen die obersten Verbrecher ausgeschaltet haben, die Masse der Nazianhänger durch die Entnazifizierung eine rechtlich geklärte Zukunftsperspektive bekam und die Alliierten eine klare, verantwortliche Rolle übernahmen. Das alles hat in Bosnien nicht stattgefunden.

Aber es gibt doch das internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien?

Das ist richtig und war auch wichtig. Aber dort wurden in jahrelangen Prozessen und mit viel gegenläufigem Tauziehen nur die ganz Großen abgeurteilt. Die Kriegsverbrecher auf den Stufen darunter, in den Städten und Dörfern, kamen weitgehend ungeschoren davon. Das hat nicht zum inneren Frieden beigetragen.

Wie beurteilen Sie das Geschehen in Srebrenica heute?

Ich glaube, es gibt viel mehr Menschen, die einsehen, dass man anders hätte handeln müssen. Ich wollte das damals schon.

Hätte man das Massaker denn verhindern können?

Ja, natürlich hätte man es verhindern können. Die niederländische Schutztruppe hat mehrmals verzweifelt um Unterstützung gebeten – aber die Herren Akashi von den UN und General Janvier von der Nato haben ihre Mandatsschlüssel einfach auf ihren Schreibtischen ungenutzt liegen lassen.

Was können wir aus Srebrenica lernen?

Dass wir den Anfängen immer sofort wehren müssen.

Sehen Sie Parallelen zwischen dem Balkan damals und Syrien heute?

Nicht wirklich. Die Natur der Probleme ist eine andere. Allerdings zeigen beide Fälle, dass Lösungen immer schwieriger werden, je länger man die Dinge in die falsche Richtung laufen lässt.

Zurück zu Bosnien-Herzegowina. Wie beurteilen Sie die Staatskonstruktion mit zwei Entitäten, einem Rotationsprinzip im Staatspräsidium, einem Hohen Repräsentanten und so weiter?

Diese Konstruktion ist absurd. Kein Staatsmann auf dieser Welt – auch die deutsche Bundeskanzlerin nicht – könnte in einem solchen Staat erfolgreich regieren. Aber die internationale Gemeinschaft hat das inkompatible Sammelsurium zwischen Staatsebene, Entitäten, Schiedsgerichtsentscheidungen und Kantonen im Daytoner Friedensabkommen zum Gesetz erklärt. Jede der drei sogenannten Nationalitäten – Bosniaken, bosnische Kroaten und bosnische Serben – kann die Parlamente durch ihr verfassungsmäßig verbrieftes Vetorecht lahmlegen. Das Ganze ist das Gegenteil einer funktionierenden Demokratie.

Kroatien ist inzwischen EU-Mitglied, Serbien führt offiziell Aufnahmegespräche. Die Staaten rundherum orientierten sich in Richtung Europa. Was heißt das für Bosnien-Herzegowina?

Das ist in der Tat ein weiteres schweres Problem, das die Sache für die ganze Region noch komplizierter macht. Da ein Teil Bosniens, die Republica Srbska mit dem Gewicht einer Entität, eine völlig gegenläufige Agenda  hat – sich nämlich von Bosnien-Herzegowina loslösen möchte –, brauchen wir uns nicht  zu wundern, dass die europäischen Reformversuche erst kürzlich  wieder gescheitert sind. Europa müsste erkennen, dass ein weiteres Laufenlassen dieser Entwicklung große Gefahren birgt. 

Hat Bosnien-Herzegowina angesichts dieser und anderer Schwierigkeiten überhaupt eine reelle Überlebenschance in seiner heutigen Form? Oder müssen wir uns darauf einstellen, dass es dort irgendwann wieder kracht?

Beides ist möglich. Auf jeden Fall aber werden die Dinge durch die politische Stagnation nicht besser, sondern schlechter. Deshalb kommen immer gravierendere wirtschaftliche, finanzielle und soziale Probleme auf das Land zu. Ich schließe deshalb nicht aus, dass es wieder kracht, ähnlich wie im Februar 2014 –  mit unabsehbaren Folgen. Es könnte aber auch sein, dass das Volk angesichts der langsamen Veränderungen immer weiter verarmt, die Wirtschaft schrumpft und unternehmerische Initiativen ausbleiben. Die Tüchtigen werden dem Land dann den Rücken kehren und auswandern. Auch das wäre fatal. In dem Fall könnte man nur auf die nächste Generation hoffen, die dann endlich Ordnung schafft.

Welche Rolle spielt Europa hier?

Keine bravouröse. Immerhin sind wir vom Wegschauen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zum finanziellen Engagement in der zweiten Hälfte der 90er Jahre gekommen. Auch die Hilfe von NGOs und Sachverständigen der Zivilgesellschaft haben hier und da sichtbare Erfolge  erzielen können, zum Beispiel bei der Verwaltung der Mehrwertsteuer oder bei der Ansiedlung von Spezialunternehmen, um einige davon zu nennen.  Aber solange man nicht den  Mut fasst, die verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen schrittweise anzupassen, wird diese Initiative keinen durchschlagenden Erfolg haben.

Wird sich das Problem nicht spätestens dann zuspitzen, wenn Serbien EU-Mitglied wird und Bosnien-Herzegowina wie ein Fremdkörper auf EU-Gebiet liegt.

Dieser Prozess wird meines Erachtens noch recht lange dauern – insofern hat Bosnien in dieser Hinsicht durchaus die Chance, einer Katastrophe zu entgehen. Ich habe die Hoffnung jedenfalls trotz aller Widrigkeiten noch nicht aufgegeben.

Brauchen wir eine neue Balkan-Konferenz, eine Art „Kontaktgruppe plus“?

Erst einmal muss sich die internationale Gemeinschaft über ihre Ziele für den Balkan klar werden. Dann müssten sich die Länder Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien, unter Umständen auch Italien und Spanien, als interessierte Kerngruppe Europas zusammenfinden. Als nächstes sollten intensive Gespräche mit den USA folgen, um über die nächsten Schritte Einvernehmen zu erzielen. Auch Russland und die Türkei sollten recht bald beteiligt werden, weil beide heute wieder aktive Mitspieler auf dem Balkan sind. Von Anfang an müsste natürlich auch  das Parlament von Bosnien-Herzegowina in die Beratungen einbezogen werden. Am Ende bräuchte es in der Tat eine neue „Balkan-Konferenz“. Sie wäre aber erst sinnvoll, wenn der oben beschriebene Prozess in Gang gekommen ist.

Gibt es bereits Initiativen in diese Richtung?

Derzeit sehe ich sie leider nicht.

Sie sind 1992 vom Ihrem Ministeramt zurückgetreten aus Protest gegen die zögerliche deutsche Politik auf dem Balkan. Sehen Sie die heutige Zurückhaltung in einer direkten Linie von damals?

Ich habe das passive Zusehen Europas angesichts der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Europa seit dem Holocaust für schändlich gehalten. Deshalb bin ich Ende 1992, bereits zweieinhalb Jahre vor den furchtbaren Ereignissen von Srebrenica, zurückgetreten. Es gab schon damals genügend Fakten und Indizien für einen systematischen Völkermord, so dass ich diese schreckliche Entwicklung kommen sah. Die jetzige Lage kann man damit allerdings nicht vergleichen. Und dennoch fehlen auch heute Mut und Willensstärke, die Dinge wirklich grundlegend zu ändern.

Sie sehen also eine lange Liste der Versäumnisse in der deutschen Balkan-Politik?

So würde ich es nicht formulieren, denn gerade diese Regierung jetzt bemüht sich sehr um eine insgesamt aktivere Außenpolitik. Aber eines ist klar: Wir sind noch weit entfernt von einer konsequenten und widerspruchsfreien Balkan-Politik.

Christian Schwarz-Schilling, früherer Bundespostminister, war Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina in den Jahren 2006 und 2007.

 

Friederike Bauer

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