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Interview über Revolte in Tunesien: "Sie können noch nicht loslassen"

Die tunesische Anwältin und Frauenrechtlerin Bochra Belhaj Hamida über die Ratlosigkeit des Regimes und die Kraft der Revolte.

Wie ist die Stimmung in Tunis?

Die Stimmung ist angespannt. Es gibt viele Gewaltakte. Die Regierung macht Kriminelle dafür verantwortlich. Aber viel spricht dafür, dass diese Gewalt von Teilen des Regimes organisiert wird. Maskierte Männer werden in Bussen in die Stadt transportiert, um die Gewalt anzuheizen, die eine noch brutalere Repression rechtfertigen soll.

Dabei schien Präsident Ben Ali einzulenken mit der Entlassung des Innenministers.

Er setzt keine eindeutigen Zeichen. Wichtiger als die Entscheidung vom Mittwoch ist die gestrige Entlassung von zwei Präsidentenberatern, die Symbole für die Politik des politischen Autismus waren. Dafür wurde Mohamed Jegham zum neuen Berater ernannt, ein Exminister, der für Öffnung steht. Er war einst entlassen worden, weil er zu liberal war. Jegham wird von vielen Tunesiern als ein Nachfolger Ben Alis gehandelt und wäre akzeptiert.

Waren Sie überrascht von der Revolte?

Wir haben alle damit gerechnet, dass es eines Tages aufbricht. Wenn ein Land so geknebelt wird, niemand gehört wird und selbst die moderatesten Kräfte als Feinde bekämpft werden, ist vorhersehbar, dass es eines Tages kracht. Auch die gewaltsame Reaktion des Staates haben wir erwartet. Aber wenn es geschieht, ist man doch überrascht – insbesondere vom Ausmaß der Revolte.

Wie soll es denn jetzt weitergehen?

Das Regime muss jetzt starke Signale geben: eine Generalamnestie für alle politisch Verfolgten – die jungen Blogger, die im Gefängnis sitzen, die Tunesier im Ausland, die nicht mehr in ihre Heimat reisen dürfen. Es reicht nicht, die Menschen, die bei den Unruhen inhaftiert wurden, freizulassen. Danach muss das Regime seine Türen für alle Oppositionsgruppen öffnen, sie müssen an einem Tisch sitzen – öffentlich – und zusammen den Übergang zur Demokratie ausarbeiten.

Wer könnte denn das Regime dabei vertreten?

Nicht die jetzige Regierung. Aber es gibt Vertreter des Regimes, die niemals Korruption oder Repression unterstützt haben. Wir haben ohnehin nie geglaubt, dass die Opposition die Macht übernehmen kann. Dazu ist sie nicht stark genug. Das ist das Drama des Regimes: Es hat alles getan, um die Entwicklung einer politischen Elite zu verhindern – heute bräuchte es aber genau diese Elite, um voranzugehen.

Welche Rolle kann Präsident Ben Ali spielen? 

Ben Ali muss den Machtwechsel vorbereiten. Es muss demokratische Wahlen geben. Das ist seine Verantwortung. Das fordern die Menschen auf der Straße. Wenn er dies vorbereiten will, dann hat er eine Rolle. Wenn er nur einige Personen auswechseln und die gleiche Politik fortsetzen will, wird das nicht funktionieren. Das hieße, Tunesien ins Chaos zu stoßen.

Sind Ben Ali und seine Umgebung schon bereit für einen Übergang zur Demokratie?

Sie wirken verloren. Wie wir alle übrigens. Keiner weiß, wie es weitergeht. Es fällt den Machthabern nicht leicht, loszulassen. 23 Jahre haben sie geglaubt, dass die Tunesier alles ertragen. Von einem Tag auf den anderen müssen sie feststellen, dass das nicht stimmt. Ben Ali hat auch Verdienste: bei Frauenrechten, Gesundheit, Bildung. Aber die totalitäre Art, wie er die Gesellschaft regiert hat, bedroht alles.

Die Protestbewegung hat bisher keine Führung. Könnte sie daran scheitern?

Die Bewegung wird nicht enden – selbst wenn die Demonstrationen aufhören sollten. Die Menschen werden nicht mehr schweigen. Sie haben keine Angst mehr. Wenn alles gut geht, kann Tunesien die erste Demokratie in der arabischen Welt werden.

Das Gespräch führte Andrea Nüsse.

Bochra B. Hamida war Vorsitzende der Demokratischen Frauenunion in Tunesien. Die oppositionelle Rechtsanwältin ist wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte bekannt geworden.

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