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Interview zum Machtkampf in Ägypten: „Die Muslimbrüder haben den Bezug zur Realität verloren“

Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Muslimbrüdern. Allein am Freitag starben bisher 80 Menschen. Wer wird den Machtkampf in Ägypten gewinnen? Ein Interview mit der Islamexpertin Annette Ranko.

Frau Ranko, wie dicht steht Ägypten vor einem offenen Bürgerkrieg?

Von einem drohenden Bürgerkrieg zu reden, halte ich für überzogen. Militär und Sicherheitsapparat sind ja intakt. Eine Situation wie in Syrien ist momentan nicht zu erwarten. Aber ich halte es für denkbar, dass Ägypten in die 90er Jahre zurückkehrt. Damals litt das Land unter einer Welle islamistischer Gewalt mit Anschlägen gegen Repräsentanten des Staates und Touristen. Außerdem gab es immer wieder Angriffe von muslimischen Fundamentalisten auf die christliche Minderheit.

Wer wird den Machtkampf gewinnen: die Muslimbrüder oder das Militär?

Kurzfristig auf jeden Fall das Militär. Dafür spricht allein schon das derzeitige Kräfteverhältnis. Langfristig allerdings könnten die Repressalien zu einer Radikalisierung des islamistischen Spektrums führen, über die Muslimbruderschaft hinaus.

Ein Kompromiss, zum Beispiel in Form einer Regierung der nationalen Einheit, ist ausgeschlossen?

Alle Zeichen sprechen derzeit für eine Konfrontation. Ein Dialog ist auf kurze Sicht kaum denkbar. Denn jede Konfliktpartei verharrt in alten Feindbildern. Für Teile des früheren Mubarak-Regimes einschließlich der Armee sind die Muslimbrüder Staatsfeind Nummer eins. Und das schon seit gut 20 Jahren. Die Muslimbrüder wiederum sehen sich als ewig Verfolgte. Sie haben Angst, dass ihnen jetzt das Gleiche widerfährt wie unter Nasser in den 50er Jahren: die komplette Ausschaltung.

In einer Moschee liegen die Toten der vergangenen Tage.
In einer Moschee liegen die Toten der vergangenen Tage.

© dpa

Das heißt, Ägypten wird eine Militärdiktatur?

Als die Armee Mursi abgesetzt hat, stand ein großer Teil der Bevölkerung hinter ihr. Man ging davon aus, dass das Militär die Macht an eine zivile Regierung übergeben wird, um die Demokratisierung voranzutreiben.

Aber danach sieht es gegenwärtig nicht aus, oder?

Vor allem säkular und liberal gesinnte Kräfte halten immer noch zum Militär, in der Hoffnung, dass es die demokratische Entwicklung vorantreibt. Aber es mehren sich auch nicht-islamistische Stimmen, die befürchten, dass sich das alte Regime wieder etablieren könnte.

Und was meinen Sie?

Der Weg ist nicht vorgezeichnet. Sicherlich werden alte Kräfte versuchen, wieder Macht zu erlangen. Aber ich glaube nicht, dass die Rückkehr in vergangene Zeiten möglich ist. Der Arabische Frühling hat Grundlegendes verändert.

Wer ist schuld an der derzeit ausweglos scheinenden Situation?

Was wir heute sehen, sind in gewissem Sinne die direkten Auswirkungen des autoritären Mubarak-Regimes. Die liberalen und linken Oppositionsparteien wurden damals gezielt geschwächt, damit sie dem Machthaber nicht gefährlich werden konnten. Davon profitierten die Islamisten. Sie wuchsen zur stärksten organisierten Kraft im Land heran. Deshalb konnten sie nach dem Sturz Hosni Mubaraks große Erfolge bei den Wahlen erzielen. Den linken und liberalen Kräften jedoch gelang das nicht. Deshalb setzen jetzt viele von ihnen auf das Militär, um so ihre Interessen gewahrt zu sehen.

Islamexpertin Annette Ranko
Islamexpertin Annette Ranko

© David Ausserhofer

Verhindert der Fanatismus der Islamisten, dass sie die machtpolitischen Gegebenheiten anerkennen?

Fanatismus ist vielleicht der falsche Begriff. Die Muslimbrüder sind einfach überzeugt davon, dass sie allein das Volk und dessen Willen repräsentieren. Und die Wahlerfolge nach Mubaraks Sturz schienen ihnen Recht zu geben. Daraus resultierte eine Überheblichkeit, durch die man den Bezug zur Realität verloren hat – auch wenn die Muslimbrüder de facto eine schichtenübergreifende Bewegung sind.

Ein zentraler Vorwurf gegen die Muslimbruderschaft lautet: Mursi hat sich vor der Wahl demokratisch gegeben, um dann diese Werte zu verraten und einen islamistischen Staat zu errichten. Deshalb habe das Militär eingreifen müssen. Halten Sie diese Sichtweise für plausibel?

Was sich auf jeden Fall geändert hat, ist die Kompromissbereitschaft der Muslimbrüder. Vor dem Sturz Mubaraks haben sie mit liberalen Kräften zusammengearbeitet, danach hatten sie das nicht mehr nötig. So konnten sie eine Verfassung im eigenen Sinne durchdrücken. Das hat sie politisch isoliert und ihnen letztendlich das Genick gebrochen.

Annette Ranko (33) arbeitet am Giga-Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Für ihre Dissertation über die Muslimbruderschaft erhielt sie den Deutschen Studienpreis.

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