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Iran: Wächterrat sieht Unregelmäßigkeiten

Der Wächterrat hat Auffälligkeiten bei der Wahl im Iran festgestellt. In 50 Städten soll es mehr Wähler als Wahlberechtigte gegeben haben. Oppositionsführer Mussawi verurteilt das Vorgehen des Regimes – und ruft erneut zu Protesten auf.

Wie der iranische Fernsehsender Press TV am Sonntag auf seiner Internetseite berichtete, habe es in 50 Städten mehr Wähler als Wahlberechtigte gegeben. Der Sprecher des Wächterrats sagte im Fernsehsender IRIB, die Auffälligkeiten beträfen mehr als drei Millionen Stimmen. Es müsse allerdings noch geprüft werden, ob diese Stimmen die umstrittene Wahl tatsächlich entschieden hätten, sagte der Sprecher.

Präsident Mahmud Ahmadinedschad hatte nach offiziellen Angaben bei der Wahl vor etwa einer Woche rund 63 Prozent der Stimmen erhalten. Der Kandidat der Opposition, Mir Hussein Mussawi, kam lediglich auf knapp 34 Prozent.

In der Islamischen Republik Iran ist der Wächterrat ein mächtiges Kontrollorgan. Seine Mitglieder prüfen alle vom Parlament vorgelegten Gesetze, ob sie mit den islamischen Grundsätzen übereinstimmen. Außerdem haben die Wächter bei allen politischen Entscheidungen von Tragweite das letzte Wort.

Mussawi rief seine Anhänger am Sonntagabend dazu auf, die Proteste fortzusetzen. Angesichts des gewaltsamen Vorgehens der Sicherheitskräfte ermahnt er sie jedoch, sich in Demonstrationen gegen die Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads zu mäßigen. "Es ist euer Recht, gegen Lügen und Betrug zu protestieren, aber ihr solltet immer Zurückhaltung üben", heißt es in einer auf Mussawis Internetseite verbreiteten Erklärung.

Rafsandschanis Tochter wieder frei

Die bei einer Demonstration festgenommene Tochter des ehemaligen Präsidenten und Ahmadinedschad-Rivalen Akbar Haschemi Rafsandschani ist einem Fernsehbericht zufolge wieder frei. Im staatlichen Sender Press TV hieß es, Faeseh Rafsandschani sei nach einer kurzen Verhaftung freigelassen worden. Dem staatlichen Rundfunk zufolge blieb es in der Hauptstadt Teheran in der vergangenen Nacht erstmals seit den Präsidentenwahlen ruhig.

Faeseh Rafsandschani und vier weitere Verwandte wurden bei einer verbotenen Demonstration am Samstag festgenommen – nach offiziellen Angaben zu ihrem eigenen Schutz. Die Verwandten wurden bereits früher freigelassen. Faeseh spielt bei den Protesten eine herausragende Rolle. Sie hielt bereits in der vergangenen Woche bei einer von den Behörden verbotenen Demonstration eine Ansprache. Ihr Vater übt noch immer viel Macht im Iran aus und unterstützt Mussawi.

Immer wieder fallen Schüsse

Am Sonntagabend berichteten Augenzeugen von Schüssen, die aus mehreren Teilen der iranischen Hauptstadt zu hören gewesen seien. In Sprechchören sollen Gegner des ultrakonservativen Präsidenten immer wieder "Allah ist groß" und Mussawis Namen gerufen haben. Auch "Tod dem Diktator" sei zu hören gewesen. Einzelheiten – etwa über mögliche weitere Opfer – waren zunächst nicht in Erfahrung zu bringen, nachdem die iranische Regierung die Berichterstattung auch der ausländischen Medien immer weiter eingeschränkt hat. Auch am Sonntag ließ die iranische Führung erneut Journalisten festnehmen oder verwies sie des Landes.

Unterdessen sorgte ein Internetvideo weltweit für Aufregung, das angeblich den Tod einer jungen Frau am Rande der Demonstration vom Samstag in Teheran zeigt. In den sozialen Netzwerken hieß es, die 19-jährige Neda sei von einem Scharfschützen der berüchtigten und Ahmadineschad nahestehenden "Basidsch"-Milizen tödlich getroffen worden, während sie mit ihrem Vater die Proteste beobachtete. Die Echtheit der Aufnahme und die geschilderten Umstände konnten jedoch nicht überprüft werden.

Die Konfrontation beider Lager hatte sich verschärft, seit sich der oberste Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, am Freitag eindeutig hinter Ahmadinedschad gestellt und Wahlfälschung in großem Stil ausgeschlossen hatte. Der als Reformer geltende ehemalige Präsident Mohammed Chatami warnte am Sonntag, dass Sicherheitskräfte und Militär die Macht im Land übernehmen könnten, indem sie das Kriegsrecht verhängen.

Hunderte Festnahmen

Mussawi warf der Regierung vor, für den Tod von mindestens zehn Demonstranten verantwortlich zu sein, die bei Kundgebungen am Samstag in Teheran umkamen. Die Weigerung des Innenministeriums, die Demonstration zu erlauben, habe erst zu den gewaltsamen Zusammenstößen geführt. Nach einer offiziellen Bilanz wurden Hunderte Menschen verletzt und mehr als 450 festgenommen. Die Opposition spricht von mindestens 200 weiteren Festnahmen.

Schon vor der Kundgebung am Samstag sollen Dissidenten, Journalisten und auch ehemalige Regierungsmitglieder festgesetzt worden sein. Die Gesamtzahl der Toten seit Beginn der Proteste am 13. Juni dürfte damit zwischen 18 und 25 liegen. Wie die Polizei am Sonntag mitteilte, wurden "457 Randalierer, die an der Beschädigung öffentlichen Eigentums beteiligt waren", festgenommen.

"All dies wäre nicht passiert, wenn der Artikel 27 der Verfassung (Recht auf friedlichen Protest) nicht (vom Innenministerium) ignoriert worden wäre", sagte Mussawi weiter. Er appellierte an die Sicherheitskräfte, nicht zuzulassen, dass ihr Verhältnis zum Volk "nicht wieder gutzumachenden Schaden erleidet".

"Die Menschen sind von den herzerschütternden Nachrichten über den Tod einer weiteren Gruppe von Demonstranten schockiert und am Boden zerstört", sagte Mussawi. Zugleich drückte er den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus. "Auf Menschen schießen, die Stadt zu einer Kaserne machen und andere Formen der Machtdemonstration" würden nicht helfen, das Problem zu lösen.

Merkel fordert Neuauszählung

Unterdessen nimmt der internationale Druck auf die Führung in Teheran zu. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte eine Neuauszählung der Stimmen bei der umstrittenen Präsidentenwahl. "Deutschland steht auf Seiten der Menschen im Iran, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ausüben wollen." Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte: "Der Iran steht am Scheideweg. Entweder gelingt es jetzt, im Dialog aller politischen Kräfte die entstandene Situation wieder zu entschärfen, oder die Lage droht weiter zu eskalieren." US-Präsident Barack Obama rief Teheran dazu auf, "alle gewalttätigen und unberechtigten Handlungen gegen die Menschen im eigenen Land zu stoppen".

Ahmadinedschad warnte die westlichen Staaten vor einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Iran. Obama und den britischen Premierminister Gordon Brown forderte er auf, ihre "interventionistische Haltung" zu korrigieren. Mit ihren "voreiligen Kommentaren" gehörten sie nicht zu den Freunden der Iraner, zitierte die Nachrichtenagentur ISNA Ahmadineschad.

Die Zahl der Journalisten, die seit Beginn der Proteste festgenommen wurden, hat sich am Wochenende stark erhöht. Wie die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) am Sonntag in Paris mitteilte, sitzen mittlerweile 33 Reporter und Internet-Blogger hinter Gittern. Damit hat sich die Zahl der Festgenommenen seit Freitag nahezu verdoppelt. "Der Iran ist jetzt das weltgrößte Gefängnis für Medienvertreter", hieß es in einer Mitteilung der Reporter ohne Grenzen.

Unter den zuletzt Festgenommenen ist den Angaben zufolge auch der Chef der Vereinigung iranischer Journalisten, Ali Mazroui. Wie das US-Nachrichtenmagazin Newsweek mitteilte, wurde auch sein Reporter im Iran, der Kanadier Maziar Bahari, am Sonntag in Teheran ohne Angabe von Gründen festgenommen. Der Korrespondent der britischen BBC, Jon Leyne, wurde von den iranischen Behörden aufgefordert, das Land zu verlassen.

(ZEIT ONLINE, dpa, rtr, raw)

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