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In einigen Regionen haben die Isis-Kämpfer die Macht üebrnommen.

© AFP

Update

Isis-Miliz auf Vormarsch: Mehr als 1000 Menschen bei Kämpfen im Irak getötet

Bei den Kämpfen im Irak sollen allein im Juni hunderte Zivilisten ums Leben gekommen sein. Die USA drohen der Isis-Miliz mit raschen Luftschlägen. Ergreift der Konflikt nun die gesamte Region?

Die Situation im Irak verschärft sich dramatisch. Bei den Kämpfen im Irak sind laut UN-Angaben im Juni mindestens 1075 Menschen getötet worden. Nicht weniger als 757 von ihnen seien Zivilisten gewesen, erklärte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, am Dienstag in Genf. Fast 600 weitere Menschen seien in drei nördlichen Provinzen verletzt worden. UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay hatte bereits in der vorigen Woche berichtet, Kämpfer der islamistischen Terrorgruppe Isis würden mit rücksichtsloser Gewalt gegen Zivilisten und Vertreter der Regierung vorgehen. Einige der Opfer seien durch willkürliche Hinrichtungen getötet worden, berichtete Colville. Unter ihnen seien außer Zivilisten auch Polizisten und Soldaten der Regierungstruppen. Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum 5. bis 22. Juni. Sie seien „Mindestangaben“, wahrscheinlich seien noch viel mehr Menschen umgebracht worden.

Die sunnitische Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis) überrannte am Montag weitere Städte und kontrolliert nun zwei der drei Grenzposten mit Syrien. Die Kurden halten den dritten. In dem Kerngebiet, in dem Isis ihr islamisches Kalifat einrichten will, kann die Gruppe nun frei Kämpfer, Material und Munition verschieben. Die riesige, dünn besiedelte Wüstenprovinz Anbar ist fast vollständig unter Isis-Kontrolle, das gilt auch für die Autobahn nach Jordanien und den einzigen Grenzübergang ins Königreich.

Am Dienstag wurde bekannt, dass mutmaßliche Kämpfer der Isis-Miliz in einer Reihe von Dörfern im Norden des Iraks offenbar Dutzende Menschen getötet haben. Das berichtet die Zeitung „Washington Post“. Ein lokaler Polizeichef sprach von mindestens 55 Getöteten. Unter den Opfern waren den Angaben zufolge auch zwei kleine Mädchen. Dutzende Menschen werden noch vermisst. Dorfbewohner sprachen von einem „Massaker“. Ziel des Angriffs vor etwa einer Woche seien vier von schiitischen Turkmenen bewohnte Dörfer unweit der Stadt Kirkuk gewesen, berichtete die Zeitung unter Berufung auf Augenzeugen. Tausende Menschen seien nach Kirkuk geflüchtet.

Kerry traf Kurdenpräsident Massud Barsani.
Kerry traf Kurdenpräsident Massud Barsani.

© Reuters

Die irakische Armee hat sich aus diesem Gebiet weitgehend zurückgezogen. Auch die strategisch wichtige Stadt Tel Afar in der Nähe von Mosul mit einem Militärflughafen ist nun vollständig in den Händen der sunnitischen Rebellen. Angesichts der weiter vorrückenden Dschihadisten im Irak hat US-Außenminister John Kerry am Montag einen Vermittlungsversuch im Irak unternommen. In Bagdad traf Kerry Regierungschef Nuri al Maliki und andere Politiker aus dem vielfältigen politischen Spektrum des Landes und diskutierte mögliche politische Lösungen . Bei seinem Besuch pochte Kerry auf die rasche Bildung einer Regierung, an der die drei größten Bevölkerungsgruppen des Landes - Schiiten, Sunniten und Kurden - beteiligt sind. Zugleich betonte der Minister, die USA seien zu einem Militärschlag bereit - noch bevor eine neue Regierung stehe.

Kerry in der Kurdenregion

Nach seinem Besuch in Bagdad reiste Kerry am Dienstag in die autonome Kurdenregion des Landes. Nach offiziellen Angaben will er dort politische Vertreter der drei Provinzen umfassenden Region treffen. Ziel seiner Vermittlungsmission ist es, angesichts des Vormarschs dschihadistischer Kämpfer ein Auseinanderbrechen des Iraks zu verhindern. Kurden-Präsident Massud Barsani äußerte sich in einem Interview pessimistisch zum Erhalt der Einheit. "Für das Volk Kurdistans ist die Zeit gekommen, seine eigene Zukunft zu bestimmen, und es ist die Entscheidung des Volks, der wir folgen werden", sagte Barsani dem US-Fernsehsender CNN. "Der Irak fällt ganz offenkundig ohnehin auseinander, und es ist offensichtlich, dass die Zentralregierung die Kontrolle über alles verloren hat."

Die Kurden hatten infolge des Rückzugs der Armee vor den Dschihadisten die Kontrolle über mehrere umstrittene Gebiete übernommen, darunter die ethnisch gemischte ölreiche Stadt Kirkuk. US-Vertreter gaben zu, dass die Gebietsgewinne nicht leicht wieder rückgängig zu machen sein würden. Zugleich dringt Washington aber darauf, dass sich die Kurden weiter im politischen Prozess in Bagdad engagieren. Kerrys Sprecherin sagte, der Minister werde "die bedeutende Rolle" unterstreichen, welche die Kurden bei der Unterstützung der Zentralregierung spielen könnten.

Wie stark ist die Isis?

Mit diesen neuen Geländegewinnen sind der Westen und der Norden des Irak mit etwa zehn wichtigen Städten unter der Kontrolle der sunnitischen Aufständischen. Einem Bericht des US-Senders CNN sollen mutmaßliche Isis-Kämpfer nun wieder die größte irakische Ölraffinerie in Baidschi eingenommen haben. Das rund 200 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene Baidschi ist strategisch bedeutend. Dort ist neben der Raffinerie, von der viele Tankstellen des Landes Treibstoff bekommen, auch ein Elektrizitätswerk, von dem aus Bagdad mit Strom versorgt wird.. Die Grenze verläuft nun etwa 100 Kilometer nördlich von Bagdad. Seit mehreren Tagen hat sich diese Frontlinie allerdings kaum mehr Richtung der Hauptstadt bewegt.

In den von der Isis kontrollierten Gegenden gilt ein 16-Punkte-Dokument, das rigorose Verhaltensregeln festschreibt. Es verbietet Alkohol und Zigaretten, ebenso wie Zusammenkünfte und das Tragen von Waffen. Frauen müssen sich dezent kleiden und wenn möglich in ihren Häusern bleiben. Zudem wird von den Kämpfern die Zerstörung von Schreinen angeordnet; das gilt für christliche Kirchen ebenso wie für heilige Stätten der Schiiten. Das Dokument ist ein Vorgeschmack dessen, wie der Alltag in dem angestrebten Kalifat aussehen könnte. „Isis kämpft, um den Irak zu teilen und zu zerstören“, sagte Kerry.

Wie agiert die irakische Armee?

Die irakische Armee hat bisher vor allem aus der Luft versucht, den Vormarsch der Aufständischen zu stoppen. Damit hat sie aber auch die lokale Bevölkerung noch mehr gegen die Regierung von Premier Nouri al-Maliki aufgebracht. Luftschläge sind ein wichtiger Grund für die Flüchtlingsströme. Aus Mosul sind bereits 18 000 Familien geflohen.

Spaltung der Bevölkerung

Eine große Gegenoffensive der irakischen Bodentruppen ist noch in Vorbereitung. Die Kommandanten der irakischen Armee haben ihre Soldaten aufgefordert, sich bei ihren Einheiten zu melden. Reservisten werden einberufen. Zudem haben sich Zehntausende Schiiten freiwillig gemeldet. Ein Sprecher Malikis bezifferte am Montag die Verluste der irakische Armee seit Beginn der Isis-Operation auf „hunderte“ Soldaten.

Werden die Isis Kämpfer von der Bevölkerung gestützt?

Es ist unsicher, ob die Isis mit ihren relativ wenigen Kämpfern in allen Regionen überall auf lange Zeit Fuß fassen kann. Dazu braucht sie die Unterstützung anderer sunnitischer bewaffneter Gruppen, der lokalen Stämme und der Bevölkerung. Die ist ihr aber auf keinen Fall sicher. Es gibt nicht wenige Gruppen, die ganz andere Ideologien vertreten. Wer sich in den einzelnen Landstrichen durchsetzen wird, wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Klar ist aber jetzt schon, dass auch moderate sunnitische Gruppen in Zukunft auf mehr Eigenständigkeit beharren und einen föderalen Staatsaufbau verlangen werden. Auch US-Außenminister Kerry forderte bei seinem Besuch eine Regierung, die die Interessen der Sunniten stärker berücksichtigt.

Wie reagiert Jordanien auf den Vormarsch der Islamisten?

Bei den Regierenden in Amman wächst die Sorge, ihr Land könnte noch mehr als bislang schon Teil der blutigen Konflikte in Syrien und dem Irak werden. Dass nun ein strategisch wichtiger irakisch-jordanischer Grenzübergang in die Hände der Terroristen gefallen ist, muss die Herrschenden besonders alarmieren: Militante Islamisten gelten als ernsthafte Gefahr für das Königshaus. Aus Sicht der Extremisten sind die Haschemiten gleich in zweifacher Hinsicht ein Feind. Zum einen arbeitet Jordanien eng mit dem „großen Satan“ USA zusammen. Zum anderen hat das Land schon vor langer Zeit mit Israel, dem „kleinen Satan“, einen Friedensvertrag geschlossen – nach Lesart der Fundamentalisten bedeutet das Hochverrat an der islamischen Sache. Kein Wunder also, dass die Streitkräfte entlang der 180 Kilometer langen irakischen Grenze in Alarmbereitschaft versetzt wurden.

Soziale Unruhe

Doch Jordanien kämpft noch an einer weiteren Front. Das Land hat offiziell bislang fast 600 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Experten gehen sogar von einer Million Menschen aus. Die damit einhergehenden Probleme sind immens. Die eigene Bevölkerung beklagt sich hörbar darüber, dass die sehr knappen Wasservorräte nun auch noch mit Abertausenden Schutzsuchenden geteilt werden müssen. In einigen Gemeinden droht der Job- und Wohnungsmarkt zu kippen, weil die Flüchtlinge ihre Arbeitskraft zu Dumpinglöhnen anbieten und die Mieten in die Höhe geschnellt sind. Diese soziale Unruhe könnte den Muslimbrüdern im Land weiter Auftrieb geben. Die Islamisten halten sich zwar im Hintergrund, gelten aber als gut organisiert und ambitioniert, mehr Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Washington misst dem Land als Stabilitätsanker im Nahen Osten eine große Bedeutung zu. Fällt Jordanien, hätte das unabsehbare Folgen für das fragile politische Gefüge in der Region. Deshalb bemühen sich die USA auch, ihren Partner so weit wie möglich zu stützen – nicht zuletzt mit Geld und Waffen. Genau das wird US-Außenminister Kerry bei seinem Besuch in Amman in Aussicht gestellt haben.

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