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Irdische Integration. Seit 1866 steht das Areal am Columbiadamm Muslimen als letzte Ruhestätte offen.

© akg-images/Dieter E. Hoppe

Islamische Bestattungen in Berlin: In alle Ewigkeit

Das Grab eines Muslims soll dort sein, wo er gelebt hat, sagt der Koran. Deshalb werden in Berlin immer mehr Menschen nach islamischem Ritus zur Ruhe gebettet. Die Regeln? „Kennen viele Muslime auch nicht“, sagt Isikali Karayel, der Bestatter.

Die Gräber sind nach Mekka ausgerichtet. Sogar die Friedhofsmauer scheint die allein angemessene Richtung zu kennen. Oder liegt es nur daran, dass der frühere Flughafen Tempelhof genau hier zu Ende war? Umso auffälliger das Grab in der Mitte. Es liegt quer zu allen anderen. Drei letzte Christen unter lauter Muslimen. Jemand hat eben erst frisches Tannengrün daraufgelegt und ein Gesteck in allen Herbstfarben. Die Toten scheinen keine Mühe zu haben mit dem, was den Lebenden so oft misslingt: der Kunst der friedlichen Nachbarschaft.

Andreas Hübners Blick geht über die noch frischen Erdhügel, die kleinen und großen Steine, die Stühle und Bänke, Fahnen und Sonnenschirme. Ja, ein paar Schirme sind auch noch da. Vor der Sonne schützen sie nun nicht mehr, aber vielleicht vor dem allzu leeren, allzu großen Himmel.

Es ist alles ein wenig bunter auf diesem Teil des Friedhofs am Columbiadamm. Hübner kannte ihn schon, als noch die großen Platanen darauf standen. Dann fehlten erst die alten Grabsteine, dann die Bäume, endlich die Erde. Sie wurde ausgetauscht, denn ein Muslim darf nur in „jungfräulicher“ Erde begraben werden. Bloß dieses eine christliche Grab blieb und bekam seit drei Jahren immer mehr neue Nachbarn: „Jetzt sind nur noch sieben Stellen übrig“, zählt Hübner. Früher hätte man einen wie ihn wohl Totengräber genannt, aber er sagt, er sei „Landschaftsgärtner“.

„Da kommen sie schon!“, ruft er seinem Kollegen zu. Sie nehmen schnell die Abdeckung von der Grube, die sie vor einer Stunde ausgehoben haben. Es ist schon die dritte an diesem späten Novembertag. In der aufgeworfenen Erde stecken mindestens sechs Spaten. Normalerweise schaufeln Hübner und sein Kollege die Gräber zu, aber bei muslimischen Bestattungen machen das die Trauernden selbst. Jemanden begraben: Handarbeit also. Der eigenen Hände Arbeit.

Der Trauerzug kommt näher. Aber wo ist der Sarg? Erst spät begreift man es ganz: Die Männer tragen einen ganz kleinen Sarg auf ihren Schultern. Er scheint zu schweben. Es ist ein Kind. Zwei steigen in die Grube, stellen ihn behutsam ab. Dann nur noch Männerrücken und betende Stimmen.

Keine Frauen. Wo ist die Mutter dieses Kindes? Die Männer haben das kleine Grab schon mit Erde bedeckt, als die Frauen kommen. Sie bleiben hinter den Männern. Das ist ein arabisches Begräbnis, flüstert Hübner, bei den Türken sind die Frauen meistens dabei. Nur eine verlässt die anderen, geht, um allein zu sein, das Taschentuch fest vors Gesicht gepresst, fast bis zum angrenzenden Kriegsgräberfeld. Hier haben beinahe alle das gleiche Todesjahr: 1914.

Der Tempelhofer Friedhof war ursprünglich Garnisionsfriedhof, gleich nebenan wurde 1798 Ali Aziz Efendi, der ständige osmanische Gesandte am Berliner Hof, beigesetzt, und Wilhelm I. schenkte 1866 dem türkischen Sultan Abdülaziz das Gelände des heutigen islamischen Friedhofs. Es ist der älteste Deutschlands, immer erweitert.

Islamische Bestattung: Traditionell heißt das, dass nur ein Stück Stoff ist zwischen dem Toten und der Erde. Muslime begraben im Kefen, einem weißen Leinentuch ohne Nähte, an beiden Ecken zusammengebunden. Seit zwei Jahren gestattet auch Berlin die Beisetzung ohne Sarg. Dieser kleine Körper hätte auch nur in ein Leinentuch gehüllt ins Grab gelegt werden können. Doch die Berliner Novembererde ist wohl zu kalt. Hübner und Kemper sind ohnehin nicht erstaunt. Sie haben noch nie eine Bestattung ohne Sarg gemacht, auch keine muslimische.

Schon für das Sterben im Islam gibt es Regeln: Der Sterbende soll auf die rechte Seite Richtung Kaaba gelegt werden. Kaaba, das ist der fensterlose Würfel im Hof der Hauptmoschee in Mekka. Sie gilt als erstes Gotteshaus, vom Menschenurvater Abraham selbst erbaut. Wer nicht rechts liegen kann, darf mit Richtung Kaaba erhöhtem Kopf gelagert werden. Alle im Raum sollen für den Sterbenden beten, der ihm Nächststehende wiederhole das Glaubensbekenntnis, damit seine letzten Worten sein mögen: „Es gibt nur einen Gott“. Frauen, die die Regel haben oder deren letzte Geburt noch nicht lange genug zurückliegt, „unreine Personen und alles, was die Engel ablehnen könnten, wie Musikinstrumente und andere Unterhaltungsapparate“ sind von ihm fernzuhalten. Das sind die Regeln fürs Sterben. Und die des Todes?

An der Schwelle. Isikali Karayel führt sein eigenes Unternehmen, das auf islamische Bestattungen spezialisiert ist.
An der Schwelle. Isikali Karayel führt sein eigenes Unternehmen, das auf islamische Bestattungen spezialisiert ist.

© Thilo Rückeis

„Kennen viele Muslime auch nicht“, sagt Isikali Karayel und lächelt ermutigend, als er die Tür gleich neben dem Motorradladen in einer Neuköllner Seitenstraße öffnet. Er weiß, viele brauchen dieses Lächeln. Wahrscheinlich glauben sie, mit dem Schritt in seine Räume überschritten sie schon die erste Schwelle zum Tod. Doch auch bei Markaz Islamische Bestattungen trifft der Eintretende zuerst auf Schreibtische. Das ist der Tod eben auch: eine große Verwaltungsfrage.

„Ich habe den ganzen Tag Büro gemacht, ich kann nicht mehr“, sagt Karayel. Bestatter sind die Sachbearbeiter des Todes. Aber in seiner Stimme ist nichts von dem absichtsvoll gedämpften Tonfall der Innung, der in jedem Augenblick „Diskretion!“ zu sagen scheint. Er ist der Geschäftsführer. Hinter ihm an der Wand blüht leicht abstrakt roter Mohn, die gegenüberliegende Seite ist ein offenes margeritenüberblühtes Bekenntnis zum Sommer. Nichts von der bemühten, urnenumstellten Seriosität der Empfangsräume deutscher Bestattungsunternehmen. Der unbezweifelbare Mittelpunkt dieses Zimmers ist der Hightech-Kaffeeautomat. Karayel bemerkt die musternden Blicke und erklärt, „alles andere“, würde die, die zu ihm kommen, eher irritieren. Es darf nicht zu offiziell wirken, am besten, man spürt die Autorität des Todes nicht zu sehr.

Die, die zu ihm kommen. Ja, so muss man das wohl sagen. Kunden, Hinterbliebene, Trauernde – alles klingt gleich falsch, entweder zu gehoben oder zu profan. Es ist nicht leicht, die richtige Tonlage zu finden, doch nach höchstens einer Viertelstunde ist klar: Dieser muslimische Bestatter hat sie. Er ist noch keine 40 Jahre alt, dunkel kariertes Hemd, graue Strickjacke. Ganz alltäglich, und doch mit Sorgfalt gewählt. Und nein, so einen Tag wie den Totensonntag gebe es im Islam nicht. Bei ihnen sei jeden Freitag Totensonntag: „Erst gehen wir in die Moschee, dann zu unseren Toten!“

Und wenn auf dem Platz vor der Moschee Totengebete gesprochen werden, beten die Umstehenden mit.

Auch wenn sie den Verstorbenen gar nicht kannten?

Auch dann, sagt Karayel nicht ohne Stolz. Denn es sei eine Ehre. Wie es auch eine Ehre sei, den Sarg zu tragen, weshalb die Sargträger so oft wechseln. Nicht, weil sie nicht mehr könnten, sondern weil jeder dabei sein möchte.

"Ich habe hier doch irgendwo noch eine Fatwa"

Die Richtung Stimmt. Die Toten werden auf dem muslimischen Friedhof mit dem Antlitz gen Mekka bestattet.
Die Richtung Stimmt. Die Toten werden auf dem muslimischen Friedhof mit dem Antlitz gen Mekka bestattet.

© akg-images / Dieter E. Hoppe

Vielleicht ist es das einzig Versöhnende im Tod: die Lebenden zu vereinen. Karayel nickt. Was für eine Vorstellung, dass fremde Menschen für einen beten. Unsere westliche Lebensform mag Virtuosen des Individualismus hervorbringen. Aber wer bringt es schon zum Individualismus des Todes? Karayel scheint die Gedanken zu erraten. Tote, die zu niemandem gehören, kommen nicht als solche unter die Erde, mindestens vier Menschen müssen das Totengebet sprechen. In solchen Fällen ist er kurz auf die Straße gegangen und hat Nachbarn oder Passanten gefragt. Und schon wieder geschah es: Menschen beten für jemanden, den sie nicht kannten.

Ist das nicht Realismus im Angesicht der letzten Dinge?

Unsere letzten Nachbarn kennen wir für gewöhnlich auch nicht. Die, neben denen die meisten 20 oder 40 Jahre aushalten müssen, denn das ist die gewöhnliche Liegezeit auf deutschen Friedhöfen. Muslime und Juden aber behalten ihre Gräber bis in alle Ewigkeit, es sei denn, das Jüngste Gericht kommt früher. Noch will das deutsche Friedhofsrecht von solchen Argumentationen nichts wissen. Immerhin, die „Sargpflicht“ ist aufgehoben. Und warum eigentlich noch im Tod seine eigenen vier Wände behaupten, diese allerletzte Immobilie?

Karayel wiegt zweifelnd den Kopf. Er hat auch noch nie eine sarglose Bestattung gemacht und kenne auch keinen, der sie wolle. Vor allem die Linken hatten im „Sargzwang“ vor Jahren ein Integrationshindernis erkannt. Aber ein Zwang ist selten allein. In muslimischen Ländern wird meist am Tag des Todes beerdigt, in Deutschland muss die Mindestfrist von 48 Stunden gewahrt werden. Da ist es hygienischer so, erklärt Karayel. Auch müsse man aus der Tatsache, dass in der Wüste keine Bäume wachsen, nicht gleich ein Dogma machen. „Ich habe hier doch irgendwo eine Fatwa“, sagt er. Das Wort bewirkt noch immer mindestens einen Wimpernschlag mehr, aber natürlich, islamische Gerichtsurteile sind nicht immer Todesurteile, manchmal beinhalten sie auch Freigaben. Karayel beginnt dort zu suchen, wo alle modernen Menschen zu finden hoffen: im Computer. Und dann liest er vor: „… wird hiermit bestätigt, dass die Akademie für islamisches Recht in Mekka, am 29. Januar 1985 die Bestattung von Moslems in hölzernen Särgen gestattet hat.“

In der Türkei und arabischen Ländern steigen die Männer selbst ins Grab, um die Toten hineinzulegen, dort sind die Gräber nur 1,50 Meter tief. Hier sind es mindestens 1,80 Meter, sagt Karayel. Wie auf würdevolle Weise hinein und heil wieder hinaus kommen? Natürlich, da gäbe es auch das Hannoversche Modell. Das ist gewissermaßen ein Sarg mit Falltür. Er kommt leer wieder herauf. Dann doch lieber drin bleiben, findet Karayel.

Er beginnt eine Hausführung. Gebetsraum, Waschraum, ein großer Raum für die Trauergäste. Dort der Kühlraum, und hier, er weist in den Hof, der Platz für das Totengebet am Sarg. Es muss unter freiem Himmel sein.

Er weiß, dass er mit dieser Ausstattung nicht die Regel ist. Es gäbe islamische „Bestatter“, die haben nichts als ein Auto. Sein Blick wird sehr lang, als er das sagt. Er versteht die Not, die Menschen dazu treibt, ein Gewerbe anzumelden, für das ihnen alle Voraussetzungen fehlen. Doch gibt es nicht auch eine Berufsehre, und vor allem: Achtung vor den Toten? Niemand kontrolliere hier.

Karayel versucht, alles möglich zu machen, was den Trauernden hilft. Manchmal bleiben Angehörige bis zuletzt bei dem Verstorbenen, schlafen hier. Ein Iraner, der seine Frau verloren hatte, rief stündlich an, auch nachts, gerade nachts: aus Liebe, aus Sorge, aus Angst. Karayel nahm immer ab.

Isikali Karayel, Diplom-Betriebswirt, mit sechs Jahren nach Hannover gekommen, ohne ein Wort deutsch zu sprechen, der Erste in seiner Familie mit Abitur und Studium, hätte sich nie träumen lassen, einen Beruf so nah am Tod zu haben. Doch dann suchte ein großes Bestattungsunternehmen einen Vertriebsmitarbeiter, und nun hat er seine eigene Firma. „Ich möchte nichts anderes mehr machen“, sagt er. Man kann so viel Sinnloses tun. Er spürt jeden Tag das Gegenteil.

Karayel hat eine schöne Art, den Tod zu erklären: Wir kommen aus der Mutter, werden gewaschen, in Windeln gelegt. Und am Ende des Lebens gehen wir diesen Weg wieder zurück. Darum ist das Waschen so wichtig, ist es die letzte Ehre. Nur Märtyrer werden nicht gewaschen. Darum sollten Friedhöfe, auf denen nach islamischem Ritus bestattet wird, einen Waschraum besitzen. Der Gatower Friedhof hat auch einen, dafür haben wir gesorgt, sagt Karayel.

Noch lassen sich zwei Drittel der Muslime, die in Deutschland sterben, in den Ländern beerdigen, aus denen sie einmal kamen. Das ändert sich gerade. Man kann es, mit dem etwas hilflosen Wort, auch Integration nennen. Es ist dem Koran sogar näher, weiß Karayel: Das Grab eines Muslims soll dort sein, wo er gelebt hat. Und natürlich kann er neben Christen oder Juden begraben werden, wenn die Richtung stimmt.

Auch die anderen Friedhöfe Berlins stehen Muslimen offen, vor allem der Zentralfriedhof in Friedrichsfelde. Doch Karayel war noch nie dort, andere muslimische Bestatter auch nicht. Wenn die letzten sieben Grabstellen am Columbiadamm besetzt sind, wird sich das ändern.

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