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Politik: Ist das noch sozial, Herr Milbradt?

Sachsens Ministerpräsident über Zumutungen für Rentner und Arbeitslose, die fehlende Lobby für den Osten – und kleinkarierte Olympiapolitik

RotGrün hat im Bundestag eine Mehrheit für die Sozialreformen bekommen. Doch schon jetzt kündigt die Union an, dass sie das Paket im Bundesrat ablehnen wird. Warum sind Sie so strikt gegen die Hartz-Gesetze?

Diese Reform löst das Hauptproblem nicht. Sie bringt nicht mehr Menschen in Arbeit. Womöglich funktioniert es noch im Westen, durch Leistungskürzung die Arbeitslosen zur intensiveren Job-Suche zu animieren. Im Osten sind einfach die Arbeitsplätze nicht da. Insofern kann es dort nur darum gehen, durch Lohnergänzungen Anreize zu schaffen, damit Arbeitsplätze entstehen. In der bisherigen Form ist das Arbeitslosengeld nur eine Lohnersatzleistung, weil einer nicht arbeiten kann. Dazu kommen muss ein System, mit dem Niedriglöhne bezuschusst werden können. Die Vorschläge für ein solches Lohnergänzungssystem liegen auf dem Tisch. Hartz IV aber präsentiert sich stattdessen vor allem als fiskalische Operation, um die Zuschüsse des Bundes für die Arbeitslosenversicherung zu reduzieren.

Wären Zuschüsse zu Niedriglöhnen ein Ergebnis, das im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat herauskommen könnte?

Ich hoffe das sehr, zumal die ursprünglichen Beschlüsse von der SPD-Bundestagsfraktion ja noch verschlimmbessert wurden. Für mich ist nicht nachvollziehbar, dass die neuen Zumutbarkeitsregeln für die Annahme von Arbeit wieder verwässert wurden.

Wo sollen denn die neuen Arbeitsplätze herkommen – wer will schon Tütenabpacker oder Kofferträger sein?

Der schwarze und der graue Arbeitsmarkt zeigen, dass es etwa im Bereich von Hilfsdiensten sofort Angebote gibt, wenn mit Netto gerechnet wird, wenn also die Sozialleistungen subventioniert werden. Die 400-Euro-Jobs sind ja nichts anderes als die Teil-Legalisierung dieses Prinzips. Dort muss man anpacken. Kern jeder Politik muss sein, Arbeit zu schaffen.

Was für Arbeit?

Jede Arbeit ist besser als Nicht-Arbeit.

Wollen Sie denn neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen?

Nein, keine ABM. Es geht mir um verstärkte Lohnsubventionen. Wir haben jetzt schon faktisch Jobs mit niedrigen Löhnen, die mit ergänzender Sozialhilfe aufgestockt werden. Dieses System müssen wir ausbauen. Wir haben doch auch in Ostdeutschland einen blühenden Markt an Dienstleistungen ohne Steuerkarte. Das ist doch ein Indiz dafür, dass dieser Markt funktioniert, dass es offensichtlich nur zu viele Regulierungen und Belastungen gibt. Wenn Arbeitslohn plus ergänzender Transfer höher ist als Nicht-Arbeit, ist das doch ein Vorteil. Die Leute wollen doch arbeiten. Das Hauptproblem in Ostdeutschland ist nicht die Menge an Drückebergern, sondern die zu geringe Arbeit.

Sollen Ihre Pläne dann nur für den Osten gelten?

Nein, für ganz Deutschland. Wobei sie im Osten mit seiner doppelt so hohen Arbeitslosigkeit eine deutlich höhere Wirkung haben würden. Natürlich könnte dabei stärker differenziert werden – nicht unbedingt zwischen Ost und West, sondern zwischen wirtschaftlich stärkeren und schwächeren Regionen.

Aber hilft das wirklich noch einem heute 50-jährigen Arbeitslosen im Osten?

Warum wird denn ein 50-jähriger Arbeitnehmer nicht eingestellt? Weil das Risiko für den Arbeitgeber durch Regelungen im Tarifrecht und beim Kündigungsschutz viel zu hoch ist. Wir schützen damit – aus durchaus nahe liegenden Gründen – diejenigen innerhalb des Systems. Aber wir erhöhen damit die Mauer für die, die außerhalb des Systems sind. Deshalb muss man zumindest über eine Lockerung der Schutzbestimmungen für diejenigen außerhalb des Systems nachdenken.

Laufen diese Überlegungen auf eine Art Sonderwirtschaftszone für den Osten hinaus?

Ja. Wenn Deutschland insgesamt nicht reformbereit ist, bin ich Anhänger der These von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, dem Osten zu erlauben, flexibler zu sein als der Westen. Das könnte man über Bundesgesetze für den Osten regeln. Lieber wäre mir aber, wenn es den Ländern selbst überlassen würde. Wir haben entsprechende Vorschläge gemacht, um mit speziellen Arbeitsmarktregeln Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Aber in der SPD ist das überhaupt kein Thema. Man fürchtet einfach eine Erosion: dass das, wenn es funktioniert, auch auf den Westen durchschlagen könnte. Aber der Osten muss schneller, besser und flexibler werden, um aufholen und im Wettbewerb bestehen zu können.

Wird das einen zunehmenden Ost-West-Konflikt heraufbeschwören?

Wir stehen vor folgender Situation: Der für den Osten zuständige Bundesminister Stolpe erklärt in seinem jüngsten Bericht, die Schere gehe wieder auseinander. Er trägt das vor wie der Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes. Ich erwarte aber, dass er zumindest eine Antwort darauf gibt, was denn nun die Bundesregierung tut, um diesen Zustand zu verändern. Da geht es nicht um mehr Geld, sondern um mehr Flexibilität für die neuen Länder.

Die Lobby für den Osten ist offenbar nicht stark genug…

Wir haben überhaupt keine Lobby für den Osten. Der Osten findet ja auf der Bundesebene praktisch nicht statt. Wenn Sie sich die Machtstrukturen in der SPD ansehen, dann spielt der Osten da überhaupt keine Rolle. In Sachsen gibt es kaum mehr als 4000 SPD-Mitglieder. Jede Stadt im Ruhrgebiet hat mehr Genossen. Ich verstehe nicht, dass sich eine Regierung, die die letzte Wahl im Osten gewonnen hat, um diese Region praktisch nicht mehr kümmert.

Wie wichtig ist Ihnen denn die Angleichung der Lebensverhältnisse?

Die Lebensverhältnisse werden sich dann angleichen, wenn sich die Wirtschaftskraft angleicht. Es ist falsch, nur auf Umverteilung zu setzen. Die ostdeutschen Betriebe können nur das an Lohn bezahlen, was sie auch einnehmen. Es gibt bei der Wirtschaftskraft übrigens auch innerhalb von Westdeutschland große Unterschiede, nehmen Sie beispielsweise den Bayerischen Wald auf der einen und Leverkusen auf der anderen Seite. In Ostdeutschland wird das Lohnniveau noch eine Weile bei 70 bis 75 Prozent im Vergleich zum Westen bleiben müssen. Jetzt schon die Löhne weiter hochzuziehen, würde eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit bedeuten.

Werden Sie denn vom Westen missverstanden?

Der Westen kann es sich leisten, eine solche Politik zu machen, weil er sehr viel Fett hat. Da ist der Veränderungsdruck geringer.

Zieht die ostdeutsche Bevölkerung überhaupt bei Reformvorhaben mit – oder ist sie doch gelegentlich zu weinerlich, wie Altkanzler Schmidt behauptet hat?

Nein, sie ist nicht weinerlich. Sie hat eine Menge geleistet. Bedenken Sie, dass zwei Drittel derjenigen, die 1990 im Osten beschäftigt waren, ihren ursprünglichen Arbeitsplatz verloren haben. Und vergleichen Sie das mit der Strukturkrise im Ruhrgebiet, wo man 40 Jahre nach dem Ausstieg aus der Kohle immer noch meint, aus sozialen Gründen den Industriezweig weiter fördern zu müssen. Ostdeutschland hat einen erheblichen Wandlungsprozess vollzogen, den man einfach anerkennen muss. Die Bevölkerung in Sachsen ist bereit, sich auf Reformen einzulassen. Wenn andere Länder das nicht wollen, sollen Sie uns wenigstens machen lassen. Es ist eine schlimme Vorstellung, dass in Ostdeutschland eine Generation heranwächst, deren Eltern arbeitslos sind und die dann selbst auch nur Arbeitslosigkeit kennen – mit den entsprechenden Konsequenzen auf die Renten. Ich versuche mit aller Macht, dagegen anzukämpfen.

Aber wie erklären Sie einem älteren Arbeitslosen in Sachsen, dass auch die CDU für die Rente mit 67 Jahren plädiert, was die Leidenszeit dieses Mannes noch einmal um zwei Jahre verlängert?

Sie müssen berücksichtigen, dass wir über unterschiedliche Zeiten reden: Es geht nicht um die, die jetzt kurz vor der Rente stehen. Bei den Reformen geht es darum, dass wir für eine spätere Situation, in der die Zahl der Erwerbsfähigen aus demografischen Gründen deutlich niedriger und die Zahl der Rentner deutlich höher sein wird, einen Ausgleich finden müssen. Da gibt es nur drei Möglichkeiten: von der dann arbeitsfähigen Generation höhere Beiträge zu verlangen, die Renten deutlich zu kürzen oder aber die einzig realisierbare: das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden zu verbessern. Wir werden in 15 oder 20 Jahren darauf angewiesen sein, die ältere Generation viel stärker in den Arbeitsprozess einzubeziehen, weil es nicht genügend Junge geben wird.

Ist das noch sozial?

Die Frage ist doch: Welche Alternative gibt es? Ist es sozial gerechter, die Renten auch unter Sozialhilfeniveau zu kürzen? Oder ist es gerechter, die jüngere Generation in einem Maße zu belasten, dass noch weniger Arbeit entsteht? Wir reden hier nicht über Wohltaten, sondern wir reden über das kleinere Übel. Und in diesem Zusammenhang ist das sicherlich die Zumutung, zwei Jahre länger zu arbeiten, zumal die Lebenserwartung ja auch steigt. Der 65-Jährige, der heute in Rente geht, ist doch fitter als der Rentner 1890, als das System eingeführt wurde.

Das Klima für Reformen in Deutschland ist offenbar nicht günstig. Liegt das auch an der Bremswirkung des Föderalismus?

Die Politiker verstecken sich hinter dem Föderalismus, weil die Entscheidungen selbst so schwierig sind. So ist es auch bei den Sozialreformen: Jeder glaubt, wenn er sich zuerst bewegt, hat er verloren – weil Wahlen anstehen. Es würde aber Sinn machen, die Prügel gemeinsam zu beziehen. Außerdem muss man die Bevölkerung bei den Reformen mitnehmen. Das darf man nicht so machen, wie die Bundesregierung, die sagt: Es tut uns ja leid, aber wir haben gerade ein Defizit in der Kasse, deswegen muss der Patient zehn Mark beim Arztbesuch bezahlen. Dann empfindet der Wähler das als Abzocke. Er sieht nicht, dass ihm das selbst etwas bringt. Deshalb ist der Begriff Reform zum Unwort verkommen. Die Politik insgesamt, und da sind nicht nur die Parteien gemeint, muss es hinbekommen, die Notwendigkeiten und den Gewinn für den Einzelnen durch die Reformen deutlich zu machen.

Reden wir mal über die Union: Ist es für Sie verständlich, wenn sich die CSU als Partei der kleinen Leute profiliert? Oder wenn der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm die Vorschläge der Herzog-Kommission zu zerreden sucht?

Für mich sind das typisch westdeutsche Debatten. Wir müssen uns doch einfach mehr Gedanken um die Altersentwicklung der Bevölkerung machen. Der Herzog-Kommission geht es um eine Antwort auf die voraussichtliche Altersstruktur bis hin zum Jahr 2050.

Und da ist der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber von gestern?

Ich bin jedenfalls gespannt auf ein durchgerechnetes Modell der CSU. Wenn man in eine Reformdiskussion geht, muss man über Sachverhalte reden.

Aber auch die katholischen Bischöfe, die sich wie Reinhard Marx aus Trier mit Sozialfragen befassen, kritisieren den Reformansatz von Herzog. Können die nicht rechnen?

Auch die müssen verstehen, dass die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft nur unter Berücksichtigung des demografischen Faktors betrachtet werden kann.

Dann besteht für Sie soziale Gerechtigkeit vor allem darin, Arbeitsplätze zu schaffen?

Für mich fängt sie damit an. Wenn ich die Arbeitslosigkeit nicht erfolgreich bekämpfe, bleibt mir nur, über Transfers zu diskutieren. Jeder bei uns hat inzwischen begriffen, dass es nicht darum gehen kann, nur Arbeitslosigkeit zu verwalten und sozial abzupuffern.

Psychologisch richtig nach vorn hätte der Osten mit der Olympia-Bewerbung kommen können. Aber jetzt versinkt alles im Chaos.

Ich bin noch nicht so weit, von Chaos zu sprechen. Aber es ist ganz klar, dass Leipzig nur dann international eine Chance hat, wenn aus einer sächsischen Bewerbung eine gesamtdeutsche Bewerbung wird. Die Bundespolitik muss dahinter stehen, die gesamte Bevölkerung, der Westen. Und das ist bis jetzt nur ungenügend gelungen. Dafür darf nicht nur einer verantwortlich gemacht werden. Ich erinnere nur daran, dass das Nationale Olympische Komitee im Aufsichtsrat 51 Prozent der Stimmen hat. Eine Stadt allein ist für eine Bewerbung zu schwach. Wenn ein Land nicht voll dahinter steht, hat sie keine Chance. Glaubt denn jemand, Paris würde ohne die massive Unterstützung der französischen Regierung antreten? Im Augenblick ist die deutsche Politik kleinkariert. Teile der Gesellschaft erwecken den Eindruck, man könne sich Olympia in Deutschland nicht leisten.

Vermissen Sie Unterstützung aus Berlin?

Wir brauchen einen nationalen Olympia-Gipfel. Bundesregierung, Opposition, Sportverbände aus dem Westen, die Wirtschaft, alle müssen an einem Strang ziehen. Das muss Deutschlands großes Projekt für 2012 werden.

So wie 1969 die Mondlandung für die Amerikaner?

Ein bisschen sehe ich das tatsächlich so. Natürlich war uns immer klar, dass Olympia Riesenanstrengungen finanzieller Art bedeutet. Für ein armes Land, eine arme Stadt ist das nicht selbstverständlich. Aber die Bewerbung bietet die Chance, die Menschen auch emotional mitzunehmen.

Und wer wird Ihr Saxonaut? Michael Groß hat abgesagt.

Wir müssen jetzt nicht auf die Schnelle jemanden herzaubern, bloß um dem öffentlichen Druck nachzugeben. Nur von der Debatte um Leipzigs Olympia-Geschäftsführer Thärichen darf nicht abhängen, ob ganz Deutschland Olympia will oder nicht.

Seine Frau kommt aus Leipzig, er war der Kanzler der Einheit, außerhalb Deutschlands ist er angesehener als jeder andere. Wäre Helmut Kohl nicht ein geeigneter Olympia-Repräsentant?

So ein Vorschlag könnte nur von Bundeskanzler Schröder kommen.

Das Gespräch führten Robert Ide, Matthias Meisner und Matthias Schlegel. Die Fotos machte Mike Wolff.

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