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1955

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Politik: Ist es jetzt Liebe?

Vor 50 Jahren unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Elysée-Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit.

Am kommenden Dienstag wird es im Plenarsaal des Bundestages ziemlich voll. Der Präsident des Parlaments hat die Kolleginnen und Kollegen der französischen Nationalversammlung eingeladen zu einer besonderen Sitzung: Es soll des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags gedacht werden, jenes Abkommens, mit dem General Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 die Basis für die deutsch-französische Zusammenarbeit schufen. Damit wurden regelmäßige Konsultationen der Regierungschefs und der Außen- und Verteidigungsminister vereinbart. Auch die Familien- und Jugendminister sollten in festen Abständen zusammenkommen, das Deutsch-Französische Jugendwerk wurde begründet, die Einrichtung einer deutsch-französischen Brigade beschlossen (stationiert wurde sie in Donaueschingen). Die Sprache des Nachbarn sollte verstärkt in den Schulen gelehrt werden, ein gemeinsames Geschichtsbuch wurde für wünschenswert befunden. Auch das gibt es inzwischen – vor einem halben Jahrhundert undenkbar, dass sich die „Erbfeinde“ auf ein gemeinsames Geschichtsbild würden einigen können.

Das Ausmaß der Kooperation blieb einzigartig. Wo hatte es das schon gegeben, dass sich die Regierungen zweier einstmals verfeindeter Länder bis in die Fachressorts hinein abstimmten? Dass Soldaten zusammen übten, deren Väter, Großväter und Urgroßväter sich in den Kriegen 1870/71, 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945 bekämpft hatten? Immerhin war Deutschland drei Mal in das Nachbarland eingefallen, bei den Deutschen war das Trauma der napoleonischen Besetzung am Beginn des 19. Jahrhunderts in Erzählungen präsent.

Alles, was uns heute in der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern selbstverständlich erscheint, hier hat es seinen Ursprung, und wenn es heute 60 Prozent der Franzosen interessant fänden, in Deutschland leben und arbeiten zu können, aber umgekehrt nur 30 Prozent der Deutschen sich das andersherum vorstellen möchten, zeigt das viel über sich wandelnde Bilder vom anderen. Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft wird von vielen Franzosen als Vorbild gesehen, die Deutschen hingegen träumen nicht mehr davon, wie Gott in Frankreich zu leben. Vor 50 Jahren galten die deutschen Männer im Vergleich zu den französischen als dröge. Als Gunter Sachs, der Industriellensohn und Playboy, 1966 Brigitte Bardot heiratete, machte das große Schlagzeilen. Ähnlich erging es dem Paar Romy Schneider und Alain Delon (wenngleich die schöne Romy streng genommen Österreicherin war, aber Liebling der Deutschen). Heute lachen wir darüber, vor einem halben Jahrhundert halfen solche Glamour-Ehen den Deutschen über ihre Komplexe hinweg.

Das Schöne an 50 Jahren deutsch-französischer Kooperation ist, dass wir uns nahegekommen sind. Kritiker sagen: so nah, dass wir uns gleichgültig werden, und von gemeinsamer Politik könne keine Rede mehr sein, Merkozy gibt es nicht mehr und Merkollande wird es vielleicht nie geben. Bonjour, Tristesse?

In Vergessenheit geraten ist die politische Lage in beiden Ländern am Vorabend des Vertrages. Um die ganze Tragweite und das Visionäre dieses Übereinkommens aus dem Jahre 1963 zwischen de Gaulle und Adenauer begreifen zu können, muss man aber wissen, wie es in Deutschland und Frankreich damals aussah, dass man sich weit weniger einig gewesen ist als heute und dass es vor diesem Hintergrund fast schon ein kleines Wunder ist, wie sich die Dinge entwickelten.

Frankreich hatte im März 1962 nach einem mehr als siebenjährigen Krieg in Algerien dem Maghrebstaat die Unabhängigkeit zugestanden. De Gaulle war 1958 die Regierung mit dem Auftrag übertragen worden, diesen mörderischen Konflikt zu beenden. Viele Franzosen hatten sich von ihm erhofft, er würde eine Lösung finden, die Algerien bei Frankreich hielte, denn für sie war die Kolonie an der Südküste des Mittelmeers Teil des Mutterlandes. Die Aussöhnung mit Deutschland sollte auch die Aufmerksamkeit der Franzosen vom Schmerz über den Verlust Algeriens ablenken und auf die viel wichtigere Friedensgeste gegenüber dem einstigen Erbfeind Deutschland richten.

Außerdem wollte Charles de Gaulle Deutschland enger an Frankreich als an die USA binden. Ihm ging es darum, Frankreich in Europa in einer führenden Rolle zu stärken. Da war der Einfluss der USA auf dem alten Kontinent eher hinderlich. In Deutschland stieß das Konzept de Gaulles sowohl auf Sympathie wie auf Ablehnung. Konrad Adenauer war in seinem politischen Spielraum zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr so souverän wie früher. Bei der Bundestagwahl 1961 hatte die CDU/CSU ihre absolute Mehrheit verloren. Dem zum vierten Mal angetretenen Adenauer wurde sein als Versagen empfundenes Verhalten nach dem Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 übel angekreidet – immerhin war der amerikanische Vizepräsident Lyndon B. Johnson noch vor dem deutschen Kanzler nach West-Berlin gereist, um den Menschen Mut zuzusprechen. Die SPD hingegen war erstmals mit dem Regierenden Berliner Bürgermeister Willy Brandt als Spitzenkandidaten in den Bundestagswahlkampf gezogen und hatte mit ihm gepunktet. Die Union brauchte also die FDP als Koalitionspartner. Die hatte mit ihrem Wahlkampfmotto „Mit der CDU, aber ohne Adenauer“ 12,8 Prozent, ihr bislang bestes Bundestagswahlergebnis, erzielt. Nun wählten ihre Abgeordneten den ungeliebten Konrad Adenauer dennoch mit zum Kanzler, setzten aber durch, dass Adenauer in der Mitte der Legislaturperiode zurücktreten würde.

Adenauer war also Kanzler auf Zeit, eine „lame duck“, wie man heute sagen würde. Keine Frage, dass er gerade deshalb das Aussöhnungswerk mit Frankreich zu Ende führen wollte. Die Unionspolitiker Franz-Josef Strauß und Freiherr zu Guttenberg unterstützten ihn darin, Außenminister Gerhard Schröder (ein CDU-Mann, nicht verwandt mit dem späteren sozialdemokratischen Kanzler gleichen Namens) stand hingegen an der Spitze der Atlantiker, also jener Politiker, die die auf Abkehr von den USA ausgerichtete Europapolitik de Gaulles mit großem Misstrauen verfolgten. Sowohl Adenauer als auch Strauß und Guttenberg waren von der Angst getrieben, die USA könnten sich über die Köpfe der Westdeutschen hinweg mit der Sowjetunion arrangieren. Die Reaktion Washingtons auf den Mauerbau 1961 – nichts tun – schien Indiz dafür zu sein. Dass die USA den Abbau der russischen Raketen aus Kuba ein Jahr später auch mit der Zusage erkauft hatten, ihrerseits von einer Raketenaufstellung in der Türkei Abstand zu nehmen, war ebenfalls bekannt. Da erschien eine Annäherung an Frankreich als vorausschauende Politik.

Atlantiker wie Gerhard Schröder setzten hingegen auf eine engere Zusammenarbeit mit den USA, weil für sie die Sicherung eines freien Europa ohne amerikanische Truppenpräsenz und ohne amerikanischen politischen Einfluss undenkbar schien. Der von Adenauer und de Gaulle geplante Vertrag, nach dem Ort der Unterzeichnung später Elysée-Vertrag genannt, schien das zu gefährden. Der Vertragstext selbst war bekannt. Gegen ihn war nichts einzuwenden, aber er barg unstrittig die Gefahr, als erster Schritt auf einem deutsch-französischen Sonderweg interpretiert werden zu können. Im Bundestag gab es daher, bestärkt durch das Auswärtige Amt, eine starke Tendenz, den Vertrag nach der Unterzeichnung in Paris ganz offiziell durch Bundestag und Bundesrat bestätigen zu lassen und ihm so den Charakter einer völkerrechtlichen Vereinbarung zu geben, ihn also aus dem Dunstkreis einer deutsch-französischen Separatvereinbarung herauszuheben. Diese Einschätzung spitzte sich zu, als Charles de Gaulle eine Woche vor der geplanten Unterzeichnung, am 14. Januar 1963, seinen Beschluss bekannt gab, eine französische Atomstreitmacht aufzubauen und Veto gegen einen EWG-Beitritt Großbritanniens einzulegen. Der Konflikt zwischen Bonn und Paris wurde offenbar, als sich der deutsche Außenminister drei Tage nach der Vertragsunterzeichnung, am 25. Januar 1963, ausdrücklich für einen EWG-Beitritt Großbritanniens aussprach.

Anders als es de Gaulle und Adenauer gewollt hatten, wurde dem Vertrag durch den Bundestag im Juni eine Präambel vorangestellt, in der sich Deutschland ausdrücklich zur Partnerschaft mit den USA und einem EWG-Beitritt Großbritanniens bekannte. Bundespräsident Karl Carstens hat dies später in einem politischen Rückblick als „Ohrfeige“ für de Gaulle gewertet, der selbst sah das auch so. Für das offizielle Frankreich war die Präambel daher nicht existent. Wer heute auf die Homepage der „Stiftung Charles de Gaulle“ geht, findet sie nicht.

Im Rückblick ist das alles tatsächlich Schnee von gestern. Geblieben ist der Vertrag selbst, sind seine weitreichenden Folgen. Das vielfältige Netz der offiziellen Kontakte auf allen Regierungsebenen gehört genauso dazu wie die 2000 Städte- und Gemeindepartnerschaften, in Deutschland besonders stark in der ehemaligen französischen Besatzungszone im Süden der Republik verankert. Durch sie kamen Bürgermeister, Gemeinderäte und die Mitglieder ungezählter Vereine von der freiwilligen Feuerwehr über die Gesangvereine bis hin zu Fasnachts- und Karnevalsgruppen zusammen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat in den vergangenen 50 Jahren mehr als acht Millionen Jugendlichen hüben und drüben den Besuch des jeweiligen Nachbarlandes und die Teilnahme an über 300 000 Veranstaltungen ermöglicht. Das europäische Erasmusprogramm, das den Studentenaustausch zwischen den Universitäten und Hochschulen des Kontinents und die Ausgabe von Auslandsstipendien organisiert, hat das ursprünglich rein deutsch-französische Thema auf die Ebene der EU gehoben.

Dass man immer wieder etwas Neues wagen kann, hat der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder 1998 demonstriert, als er dem Verdacht, Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen seien ihm nicht so wichtig, durch eine Ernennung dieSpitze nahm. Er gewann Brigitte Sauzay als Beraterin für die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Brigitte Sauzay, 1947 geboren, war Dolmetscherin dreier französischer Präsidenten gewesen. Dank ihrer Hilfe hatte Schröder bei seinem Antrittsbesuch in Frankreich 1998 einen furiosen Start. Frau Sauzay hatte ihm geraten, einen Pariser Vorort zu besuchen, in dem Rainer Maria Rilke als Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin gearbeitet hatte. Schröder zitierte dort Rilke auf Französisch und die Begeisterung des politischen und kulturellen Frankreich kannte keine Grenzen.

Brigitte Sauzay, die schon 2003 starb, hinterließ mit der heutigen „Stiftung Genshagen“ ein politisches Vermächtnis. 1993 hatte sie, zusammen mit Rudolf von Thadden, das „Berlin- Brandenburgische Institut für deutsch- französische Zusammenarbeit in Europa“ gegründet, dessen Ansiedlung nahe Berlin der damalige Brandenburger Ministerpräsident Manfred Stolpe betrieb.

Es sieht so aus, als sei die Vision der beiden alten Männer über die lange Distanz betrachtet realistischer gewesen als alle Bedenken. Mit den Bildern von den symbolträchtigen Akten 1962 in der Kathedrale von Reims und 1963 im Elysée-Palast setzten sie so etwas wie Denkmale der deutsch-französischen Partnerschaft. Heute zweifelt die Politik, ob der Versöhnungsgedanke nach Jahrzehnten des Friedens aktuell genug sei, der besonderen Partnerschaft zwischen beiden Nationen genügend Auftrieb im öffentlichen Bewusstsein zu geben, ob nicht eine neue Begründung, ein neues Narrativ nötig sei.

Immer wenn die Politik ein neues Narrativ fordert, erliegt sie damit nicht ihrem Hang zum Märchenerzählen, sondern benennt einen tatsächlichen oder vermuteten Notstand. Wer das Fehlen eines Narrativs beklagt, einer Erzählung als Sinngebung, gibt zu, eine Politik nicht mehr überzeugend begründen zu können. Das ursprüngliche Narrativ ging so: Am Anfang der Europäischen Einigung und vor den Treffen von Reims und Paris stand das große „Nie wieder“. Nie wieder sollte ein Krieg diesen Kontinent in den Abgrund stürzen. Nie wieder sollte Deutschland so stark und doch so alleingelassen sein, dass es über seine Nachbarn herfallen könnte. Nie wieder sollte die Stahl- und Montanindustrie so viel Einfluss auf die Politik gewinnen, dass sie aus schierer Gewinnmaximierungsgier am Entstehen kriegerischer Brandherde mitzündeln könnte.

All dies ist Vergangenheit, wollen uns die Sucher nach neuen Narrativen sagen und stimmen mit jenen überein, denen Europa in seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten teuer und überholt vorkommt. Ist das so? Wir erleben gerade in der Euro-Krise, wie viel an Aggressivität unterhalb der Schwelle des kriegerischen Konfliktes noch möglich ist. Nein, wir brauchen kein neues Narrativ. Wir müssen nur zurückschauen, um zu wissen, dass wir das Fundament eher verstärken müssen. Das Europa von heute braucht andere Instrumente, andere Regeln, mehr Disziplin bei den einen, weniger Rechthaberei bei den anderen. Wir müssen uns nicht mehr zwischen Frankreich und den USA entscheiden. Nur wenn die Europäer zusammenhalten, werden sie eine Chance in der globalisierten Welt haben. Wolfgang Schäuble, der europäischste aller deutschen Minister, bezeichnete Europa in einer Rede in Heidelberg jetzt als „eine in der Welt immer noch einmalige Mischung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, von demokratischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit“. Reicht das nicht als Narrativ?

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