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Politik: Jahr der Entscheidungen

2006 beginnt in der Türkei bereits der Vorwahlkampf – damit werden Kompromisse mit der EU schwieriger

Das Jahr 2006 wird zum Jahr der Entscheidung für die Europafähigkeit der Türkei. Im Innern steht eine Grundsatzentscheidung über die Grenzen der Meinungsfreiheit an. Schlachtfelder sind der Prozess gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk und andere Gerichtsverfahren. Außenpolitisch muss sich Ankara mit der wachsenden Türkei-Skepsis in der EU befassen. Zudem wird der Zypern-Konflikt neue Prüfungen mit sich bringen. Da sich die Regierung in Ankara wieder stärker auf ihre nationalistischen und religiösen Wähler besinnt, ist keineswegs sicher, dass sich die Türkei in diesen Zeiten immer für Europa entscheiden wird.

Knapp drei Monate nach der Entscheidung der EU für Beitrittsgespräche mit der Türkei hofft Ankara auf den Start der inhaltlichen Verhandlungen bis Februar. Das ist sehr optimistisch. Die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik sagt, es sei nicht sicher, dass die Verhandlungen unter der Wiener Präsidentschaft im ersten Halbjahr starten könnten. Österreich gehört zu den besonders Türkei-skeptischen Ländern in der EU und kann auf wachsende Unterstützung für seine Position hoffen. So hat die Türkei durch das Ende der rot-grünen Koalition in Deutschland einen ihrer wichtigsten Helfer in der EU verloren. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird bei ihrem ersten Türkeibesuch im neuen Amt im Frühjahr den Schwerpunkt auf die Wirtschaftsbeziehungen legen, um einem Streit über ihr Nein zu einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft aus dem Weg zu gehen.

Die abnehmende Sympathie für die Türkei in der EU wird 2006 auch Fortschritte in der Zypern-Frage schwieriger machen. Brüssel verlangt von der Türkei, sie solle ihre Häfen für Güter aus dem griechischen Teil Zyperns öffnen, der zur EU gehört. Andernfalls könnten die Beitrittsgespräche gestoppt werden. Ankara will die Häfen aber erst öffnen, wenn die EU ihr Versprechen einlöst, die wirtschaftliche Isolierung des türkischen Inselteils zu beenden. Dies wiederum wollen die griechischen Zyprer nicht zulassen. Damit steckt der Zypern-Konflikt wieder einmal in der Sackgasse.

Zudem kritisiert die EU die Verlangsamung des Reformprozesses in der Türkei und verlangt insbesondere eine Nachbesserung des neuen Strafrechts, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Ankara lehnt das ab. Als die EU zum Beginn des Prozesses gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk Beobachter nach Istanbul schickte, warf die Regierung den Europäern vor, sie wollten Druck auf die türkische Justiz ausüben. Nur einzelne, besonders pro-europäische Minister und Politiker in der Türkei akzeptieren, dass sich Brüssel im Verlauf der Beitrittsverhandlungen immer mehr in die inneren Angelegenheiten ihres Landes einmischen darf.

Dies einem nationalstolzen Volk wie den Türken zu erklären, erfordert ein Maß an politischem Mut, das 2006 in Ankara wahrscheinlich nicht vorhanden sein wird. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die in den vergangenen Jahren viele Reformen auf den Weg brachte, erfährt immer häufiger, wie schwierig und politisch kostspielig die Umsetzung dieser Veränderungen sein kann. Inzwischen herrscht in der Türkei eine Atmosphäre, in der Reformbereitschaft als Buckeln vor den arroganten Europäern kritisiert wird.

Diese Stimmungslage ist wichtig, weil sich die Türkei 2006 auf Wahlen vorbereitet. 2007 soll das Parlament mit seiner großen AKP-Mehrheit zuerst einen neuen Staatspräsidenten wählen und dann turnusgemäß selbst neu gewählt werden. Die Vorbereitung auf die Präsidentenwahl dürfte 2006 zum dominierenden innenpolitischen Thema in der Türkei werden, denn es geht um die Frage, ob es der islamisch geprägten AKP gelingt, einen ihrer Politiker und vielleicht sogar Erdogan selbst ins höchste Staatsamt zu hieven. Das würde die Spannungen zwischen der AKP und den laizistischen Eliten in der Armee, der Justiz und im Staatsapparat noch einmal verschärfen. Ein breiter Konsens für mehr Europa-Reformen wird im Vorwahlkampf des Jahres 2006 nur schwer herzustellen sein.

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