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Jahresrückblick: Mitten aus dem Leben: Rücktritte 2010

Am 31. Mai quittierte der Bundespräsident den Dienst. Ein Höhepunkt im Jahr der Rücktritte. Erinnern wir uns noch an all die anderen, die plötzlich passé sind?

Menschen mit Ämtern und Würden halten gewöhnlich sehr fest an ihrer Macht. Aus Lust – oder aus Angst vor dem Verlust. Sesselkleber und Aussitzer, die gab es natürlich auch 2010, beispielsweise den unglückseligen Duisburger Oberbürgermeister nach dem Desaster der dortigen Loveparade. Aber es wurde auch wahnsinnig viel zurückgetreten. Mehr als jemals sonst in einem Jahr ohne Revolutionen oder politische Erdbeben. So zumindest fühlt es sich für die Deutschen an, denen an der Spitze sogar der Bundespräsident Knall auf Fall abhandenkam. Noch war der wonnige Mai nicht ganz vorbei, da erklärte Horst Köhler in einer Drei-Minuten-Ansprache, dass er sich nicht mehr so richtig respektiert fühle und den Dienst als deutsches Staatsoberhaupt quittiere.

Das hatten wir noch nie. Aber sechs Tage zuvor hatte immerhin schon ein veritabler Ministerpräsident ohne zunächst erkennbaren aktuellen Grund erklärt, dass „Politik nicht mein Leben“ sei. So sprach’s Roland Koch, der in seinen zwölf Jahren als hessischer Regierungschef genau das gewesen war, was die Angelsachsen ein „ political animal“ nennen. Oder auf gut Deutschgriechisch: ein politisches Alphatier. Kaum war Koch, der nie Kellner sein wollte, im Spätsommer dann aus dem Amt geschieden, da wurde die künftige Karriere offenbar. Erst schreibt der frühere Kanzleraspirant seine Memoiren, dann wird er im kommenden März Vorstandsvorsitzender des Baukonzerns Bilfinger Berger, mit stark verbesserten Bezügen.

Memoiren und selbst erfahrene Lebensweisheiten hatte unter dem Titel „In der Mitte des Lebens“ gerade auch die erste Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) verfasst; da fiel sie, mit etwas zu viel Alkohol im Blut und nach einer bei Rot überfahrenen Ampel, einer Polizeistreife ihrer Heimatstadt Hannover auf. Margot Käßmann tat, was Männer so schnell und überzeugend nur selten tun: Nach einer Verfehlung, die Tag für Tag unzählige motorisierte Wein- und Bierfreunde begehen, gab sie den EKD-Vorsitz und ihre Bischofswürde, die sie wie Roland Koch sein Regierungsamt 1999 übernommen hatte, auf der Stelle ab. Das haben viele Menschen in Deutschland, Christen wie Nichtchristen, bedauert – und zugleich respektiert. Und mit noch gesteigertem Interesse haben sie die „Mitte des Lebens“ zu einem der erfolgreichsten Bücher des Jahres gemacht.

Das meistgekaufte Buch hat 2010 allerdings ein Ex-Politiker veröffentlicht, der hernach als Vorstandsmitglied der Bundesbank gleichfalls zurückgetreten ist. Thilo Sarrazin – über ihn und seine Buchtitelthese „Deutschland schafft sich ab“ muss man angesichts seines Millionenbestsellers und einer gefühlten Milliardenmedienpräsenz nun gar nichts mehr sagen. Er ist als Schurke und Schamane, als Analytiker, Warner, Übertreiber und Debattenanreger in jedem Fall der Mann und Rücktreter des Jahres. Und er wird, darauf ist bei Sarrazin Verlass, auch 2011 noch genug Anlass zum Nachtreten wie zum Nachdenken geben.

Das Gegenbild übrigens zur hannoveranischen Ex-Bischöfin Margot Käßmann ist Augsburgs katholischer Bischof Walter Mixa gewesen. Bei ihm spielte Alkohol nicht im Auto, sondern im Amt eine Rolle – und noch mehr persönliche Bereicherungsvorwürfe und Skandale um Missbrauch und Misshandlungen von Schülern und jungen Schutzbefohlenen, die inzwischen praktisch alle anderen Kirchendebatten beherrschten. Der starrsinnige, hartleibige Mixa aber hatte wenig bis nichts zur Aufhellung beizutragen. Stattdessen musste er mit Hilfe seiner katholischen Amtsbrüder und selbst des bayerischen Papstes in Rom zum Rücktritt gedrängt werden. Zu einem Rücktritt, von dem Mixa dann selber am liebsten gleich wieder zurückgetreten wäre.

Erinnern wir uns noch an all die anderen, die plötzlich passé sind? Ole von Beust, der Hamburger Bürgermeister, hat hingeschmissen; der abgewählte NRW-Regierungschef Jürgen Rüttgers (CDU) gab im Sommer alle seine parteipolitischen Ämter auf, ähnlich wie am Rhein auch der NRW-FDP-Politiker Andreas Pinkwart und in Bayern die frühere CSU-Rebellin Gabriele Pauli, die den Vorsitz ihrer „Freien Union“ und damit wohl auch den letzten Rest Politik fahren ließ. Ähnliches gilt derzeit für den Brandenburger Ex-Innenminister Rainer Speer von der SPD.

Der prominenteste Verzichtspolitiker außer Koch und Köhler war indes Oskar Lafontaine. Aber diesmal, als er den Parteivorsitz der Linken zurückgab und sich (vorübergehend) ins heimische Saarland verzog, hatte es, anders als zu SPD-Ministerzeiten, ernste gesundheitliche Gründe. Der Krebs, siehe Christoph Schlingensief und viele andere, ist ein Meister, nicht nur in Deutschland.

Außerhalb der Politik traten Idole wie FC St. Paulis legendärer Fußballpräsident Corny Littmann zurück, dazu etwa ein Dutzend einvernehmlich entlassener Bundesligatrainer. Das ist üblich. Wie auch Regierungswechsel, zum Beispiel in Japan und Großbritannien. Zurückgetreten mit einem goldenen Scheck ist nach der Ölbohrinselkatastrophe im Golf von Mexiko endlich auch BP-Chef Tony Hayward. Nur zwei treten wohl niemals zurück: Sepp und Silvio, Blatter und Berlusconi.

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