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Schlechtes Wetter sind die Briten gewohnt, Euroskepsis eigentlich auch. Doch jetzt wird es ernst.

© AFP/Justin Tallis

Europapolitiker David McAllister im Interview: Brexit-Jahrestag: "Die Uhr für London tickt"

Vor genau einem Jahr stimmten die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der EU. CDU-Europapolitiker David McAllister empfiehlt den scheidenden Partnern, zügig über die künftige Beziehung zur EU zu entscheiden.

Herr McAllister, vor einem Jahr, am 23. Juni 2016, haben sich die Briten in einem Referendum für den Brexit ausgesprochen. Wie schätzen Sie die Lage heute ein? Hat die britische Bevölkerung die bevorstehende Trennung von der EU innerlich schon abgehakt?

Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, bedaure ich nach wie vor unendlich. Es ist in meinen Augen ein historischer Fehler mit unabsehbaren Konsequenzen für das Vereinigte Königreich. Mein Eindruck ist: Die britische Gesellschaft ist stark polarisiert. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den britischen EU-Austritt befürworten, auf der anderen Seite die, die nach wie vor für einen Verbleib in der EU sind. Und dann gibt es eine größer werdende Gruppe derjenigen, die ursprünglich für die weitere EU-Mitgliedschaft waren, aber die das „innerlich abgehakt“ haben und sich nach einer pragmatischen Lösung sehnen.

Sehen Sie eine Möglichkeit, einen Exit vom Brexit zu organisieren?

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn man sich die Zusammensetzung des britischen Unterhauses anschaut, dann ist an der Grundsatzentscheidung, die EU zu verlassen, wohl leider nicht mehr zu rütteln. Die beiden großen Fraktionen, die Konservativen und Labour, sind sich einig, dass das Votum vom 23. Juni 2016 politisch umgesetzt werden soll. Ich bin zwar nach wie vor der Auffassung, dass eine Europäische Union mit 28 Mitgliedern besser wäre als eine EU mit 27 Staaten. Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister.

© Peter Steffen/ picture alliance / dpa

Stichwort Realität: Ende April hat Kanzlerin Merkel im Bundestag erklärt, einige Politiker in Großbritannien würden sich der Illusion hingeben, dass Großbritannien auch nach dem Austritt aus der EU über die gleichen Rechte verfügen könne wie vorher. Sind nun inzwischen alle Verantwortlichen auf der Insel aufgewacht?

Nicht wenige Aussagen britischer Politiker waren dem Wahlkampf geschuldet. Diese Wahl ist jetzt gelaufen. Nun geht es an die Arbeit. Die Uhr für London tickt. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Land, das die Europäische Union verlassen will, nicht besser oder gleich gestellt werden kann als ein EU-Mitglied. Jetzt, nach der Wahl, scheint sich diese Einsicht auch auf den hinteren Bänken im Unterhaus durchzusetzen. Premierministerin May will – das war der Thronrede vom Mittwoch zu entnehmen – ein geordnetes Verfahren bei den Verhandlungen mit der EU anstreben.

May hat zuvor auch damit gedroht, dass es möglicherweise am Ende keine Vereinbarung geben könnte.

Die Aussage mancher britischen Politiker, dass es besser sei, am Ende gar keinen Deal mit den EU-27 zu haben, als eine schlechte Vereinbarung abzuschließen, halte ich für nicht nachvollziehbar. Denn dies wäre das schlechteste Szenario für alle Beteiligten. Wenn am Ende kein Abkommen zu Stande kommt, wäre dies jedoch besonders für die britische Seite sehr negativ. So fiele das Vereinigte Königreich ab dem 30. März 2019 im Handel mit der EU auf einen schlichten WTO-Status, wie ihn beispielsweise afrikanische Länder haben. Das kann nicht im Interesse der britischen Volkswirtschaft sein.

Wie David McAllister die Zwickmühle der britischen Politik beschreibt

Die britische Regierungschefin Theresa May beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag.
Die britische Regierungschefin Theresa May beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag.

© Emmanuel Dunand/AFP

Eine der Möglichkeiten besteht darin, dass ab dem 30. März 2019 ein Übergangsabkommen greift, dem zufolge Großbritannien vorübergehend erst einmal Teil des EU-Binnenmarktes bleiben kann. Müsste Großbritannien für diese Übergangszeit auch weiterhin EU-Beiträgen zahlen?

Ohne Übergangsregelungen wird die Trennung des Vereinigten Königreichs von der EU gar nicht möglich sein. Es gibt ja immer noch vereinzelte Stimmen in London, denen zufolge innerhalb der laufenden Zwei-Jahres-Frist nicht nur das Austrittsabkommen, sondern auch die neue Beziehung mit der EU vertraglich vollumfänglich ausverhandelt werden soll. Das ist vollkommen ausgeschlossen. Es wäre sinnvoll, wenn diese Stimmen jetzt zur Vernunft kommen. Bis März 2019 sind zwei Abkommen erforderlich: der Austrittsvertrag und eine Vereinbarung über den Rahmen der künftigen Beziehungen.

Weil die Verhandlungen technisch bis zum Herbst 2018 abgeschlossen sein müssen, ist klar: Die britische Politik sollte zügig entscheiden, welche künftige Beziehung sie zur EU anstrebt. In London muss beschlossen werden, ob das Land im Binnenmarkt bleibt, ob es den Binnenmarkt verlässt, aber in der Zollunion bleibt oder ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU anstrebt - falls es, wie Premierministerin May es möchte, sowohl den Binnenmarkt als auch die Zollunion verlässt.

Warum fällt es Politikern auf der Insel so schwer, sich für eine der Optionen zu entscheiden?

Die Möglichkeit der weiteren Mitgliedschaft im Binnenmarkt ist keine Option für Frau May, weil sie dann ja auch weiterhin Zuwanderung aus der EU und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren müsste. Die Mitgliedschaft in der Zollunion widerspricht dem britischen Ziel, eigenständig Freihandelsabkommen mit anderen Ländern der Welt abzuschließen. Wenn man die Zollunion verlässt, gibt es aber das Problem, dass eine Zollaußengrenze zwischen Irland und Nordirland entstehen könnte. Das wiederum lässt sich aber nicht mit dem politischen Ziel vereinbaren, die Grenze zwischen Nordirland und Irland offen und durchlässig zu halten. Denkbare Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien würden jedoch die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden, einem ganz zentralen Anliegen nicht nur der nordirischen DUP. Es sind also pragmatische Lösungen gefordert.

Was folgt daraus?

Die EU und London werden ein umfassendes Handels- und Partnerschaftsabkommen verhandeln. Das erfordert Zeit. So dauerte die Aushandlung des Ceta-Abkommens mit Kanada sieben Jahre. Mehrjährige Übergangsfristen werden also notwendig sein, um die Loslösung der britischen Volkswirtschaft vom Binnenmarkt möglichst reibungslos zu gestalten.

Soll Großbritannien künftig ein enger Partner der EU bleiben?

Ja! Wie eng sich das Vereinigte Königreich an die EU binden möchte, ist eine Grundsatzentscheidung, die in London getroffen wird. Egal was nach dem 29. März 2019 passiert. Das Vereinigte Königreich wird nicht in Richtung Neufundland über den Atlantik wegsegeln. Dieses großartige Land bleibt unser Nachbar, unser Nato-Verbündeter und ein sehr wichtiger Handelspartner. Deshalb ist es auch in unserem Interesse, dass wir in einem ordentlichen und fairen Verfahren unsere künftigen Beziehungen gestalten.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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