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9 11

© AFP

Jahrestag: Nach 9/11 ist vor 9/12

Zum Jahrestag gedenken nicht nur die Amerikaner der fast 3000 Opfer bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Politik der Angst oder die Nation um eine gemeinsame Sache scharen: Wie würden die USA heute auf einen Anschlag reagieren?

Wer sich ein Bild davon machen will, wie tief die Angst der Amerikaner vor einem neuen Angriff auf ihr Festland sitzt, muss einen Blick in die Pläne der New Yorker Polizei für Ground Zero werfen. 600 Beamte sollen die Straßen um den zu bauenden Freedom Tower und die dazugehörige Gedenkstätte bewachen, ausgerüstet mit Geigerzählern, Kameras. Es wird ein Dutzend Kontrollstellen geben. Privater Autoverkehr ist unerwünscht, Busse und Laster werden in einem unterirdischen Spezialkomplex auf Bomben durchleuchtet. Die Nummernschilder aller Autos, die sich auf der Insel Manhattan bewegen, sollen fotografiert und wenigstens einen Monat lang gespeichert werden.

Sieben Jahre nachdem die Terroristen mit ihren Anschlägen in New York und Washington mehr als 3000 Menschen töteten, entscheidet sich im Herbst, ob Amerika den Schritt wagt hinaus aus der 9/11-Welt hinein in eine 9/12-Welt. Die Wahl zwischen dem Demokraten Barack Obama und dem Republikaner John McCain mag eine Wahl sein zwischen zwei Gesundheitssystemen, zwei unterschiedlichen Auffassungen von der Rolle des Staates und zwei Ideologien. Doch sie entscheidet auch, ob Angst weiterhin ein bestimmendes Mittel der Politik bleibt in Amerika.

Auf ihrem Parteitag in St. Paul machten die Republikaner reichlich Gebrauch von 9/11. Bevor McCain am vergangenen Donnerstag seine Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat hielt, zeigten sie ein fast dreiminütiges Video mit all jenen grausamen Bildern, die sich in das Gedächtnis der Nation eingebrannt haben. „Dies ist ein Krieg, den wir uns nicht ausgesucht haben“, kommentierte im Off eine bedrohlich klingende Stimme. „Dies ist ein Krieg, den Amerika gewinnen wird. Und wir werden dafür sorgen, dass es nie wieder passiert.“ Die gut 4000 Delegierten in der Halle klatschten frenetisch Beifall. Zwei Tage zuvor hatte der scheidende Präsident George W. Bush McCain als den „einzigen Kandidaten, der die Lektion von 9/11 gelernt hat“ gepriesen.

Barack Obama dagegen ist angetreten, „die Politik der Angst“ zu beenden, die die Bush-Regierung zur Kunstform erhob, um ihre neokonservativen Ziele der Weltveränderung der eigenen Bevölkerung einzutrichtern. Damit rettete sie sich sogar in eine zweite Amtsperiode, doch mittlerweile wird immer klarer, dass der von ihr nach dem 11. September 2001 ausgerufene „globale Krieg gegen den Terrorismus“ nicht zu gewinnen ist, zumindest nicht mit Waffengewalt. Deshalb – und, um ihren Platz in den Geschichtsbüchern in letzter Minute wenigstens ein bisschen aufzuhübschen – hat die US-Regierung ihren ganz auf den Irak verengten Tunnelblick in den vergangenen Monaten geweitet. Truppen werden aus dem Mittleren Osten nach Afghanistan verlagert. Mit Nordkorea verhandeln amerikanische Diplomaten ein Atomabkommen, mit dem Iran sitzen sie an einem Tisch. Die „Achse des Bösen“ soll nun doch mit Worten gebrochen werden, nicht mit Waffen.

Syrien, Israel, Libanon, Pakistan, Indien, China, Georgien, Russland – diplomatische Fronten, an denen die Amerikaner alle Hände voll zu tun haben und ohne die Unterstützung von Verbündeten nicht weiterkommen. Deshalb ist auch gar nicht klar, was Bush eigentlich meint, wenn er sagt, McCain werde seine Politik fortsetzen. Welchen Teil? Den des Unilateralismus oder den der Diplomatie? Den der Weltbekehrung oder des Wandels durch Annäherung? Die Doktrin des präventiven Erstschlags will keiner der beiden Präsidentschaftskandidaten vom Tisch nehmen. Das macht sich nicht gut im Wahlkampf, auch wenn das Land militärisch und finanziell erschöpft ist. Doch die Herausforderung in einer 9/12-Welt liegt darin, die Nation wieder um eine gemeinsame Sache zu scharen, nicht um einen gemeinsamen Feind. Und darin, das Herz New Yorks zu öffnen für die Besucher aus aller Welt, die den von Terroristen verursachten Wahnsinn besichtigen wollen, statt es zu einer Polizeifestung auszubauen, die doch nur ein trügerisches Gefühl der Sicherheit suggerierte.

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