zum Hauptinhalt

Japan nach dem Beben: Fliehen oder bleiben

Es ist eine simple Frage, auf die viele Japaner eine Antwort suchen: Soll die Tür offen sein oder verriegelt? Offen wegen der vielen Nachbeben. Verriegelt wegen der radioaktiven Wolke. Ein Land am Rand der atomaren Katastrophe.

Angst und Sorge über das Beben weichen langsam der Trauer.

Aber darf er trauern? Das fragt er sich, der in Tokio lebende Deutsche. „Ich habe doch nichts verloren“, sagt er, Kumiko, seine Frau, und er selbst seien gesund und unverletzt geblieben, „nichts ist kaputtgegangen“. Warum trauern?

„Ich merke es, ich muss trauern, die Eindrücke sind einfach zu viel, zu überwältigend“, schreibt Jesper Weber, „vielleicht war der eigene Schreck, die Sorge um Kumiko, um Freunde, die Familie verloren haben könnten, eben doch zu groß und bricht sich jetzt Bahn.“ Jetzt, da die Anspannung nachlässt, breitet sich eine Leere in ihm aus. Seine Frau Kumiko ist erschöpft, gestern Nachmittag schlief sie auf dem Sofa ein. Die letzten drei Tage seit Freitag waren sehr anstrengend, vor allem mental.

Noch immer kommt es zu Nachbeben, 38 waren es heute, aber sie werden schwächer. Die Sorge, dass es erneut krachen und minutenlang so schwer rumpeln könnte, dass Glasscheiben bersten und die Gebäude knacken, sie wird von der Sorge um die Atomkraftwerke verdrängt. 256 Kilometer Luftlinie ist die nächstgelegene defekte Anlage entfernt. Und Regierungssprecher Yukio Edano, der es sich angewöhnt hat, in der hellblauen Montur eines Technikers vor die Kameras zu treten, spricht von „Anzeichen für eine Kernschmelze“ in Fukushima. Später wird er es eine „geringe Kernschmelze“ nennen, bevor er überhaupt nicht mehr davon redet. „Ich glaube nicht“, sagt Jesper Weber, „dass Informationen zurückgehalten werden, sondern dass es keine gibt, weil die Lage nicht klar ist. Nicht sehr beruhigend.“

Jesper Weber und seine Frau stehen wie viele Japaner vor dem Dilemma, zwei unwägbare Risiken gegeneinander abwägen zu müssen. Einerseits wird berichtet, dass mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Nachbeben mit Stärke 7 auf der Richterskala zu erwarten sei. Das dürfte auch in Tokio zu starken Erschütterungen führen. Ihr Wohngebäude ist bisher nicht beschädigt worden. Und sie wissen genau, was sie tun sollen, wenn es wieder zu ruckeln beginnt, hunderte Male ist es ihnen eingeschärft worden in einer Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten intensiv auf schwere Erdbeben vorbereitet hat. Die Haustür sollen sie offen stehen lassen, da sich bei einem Beben der Gebäuderahmen verziehen und eine verklemmte Tür zur Falle werden kann.

Andererseits sind die Webers besorgt über Strahlung aus den Meilern in Fukushima. Sie glauben den Berichten, dass es bisher nicht zu einer radioaktiven Belastung gekommen ist, die in Tokio gesundheitsgefährdend wäre. Sollte es dazu kommen, müssten sie Türen und Fenster hermetisch abdichten. Rauskommen können oder nichts reinlassen?

Fürs Erste bleibt die Tür geöffnet.

Um 11 Uhr am Montagvormittag ist auch am Reaktor Nummer 3 in Fukushima das Außengebäude durch eine Wasserstoffexplosion weggesprengt worden. Die Verpuffung war so gewaltig, dass Trümmerteile wie aus einem Vulkan hunderte Meter in die Luft geschleudert wurden und auf das Kraftwerk niederprasselten.

Antworten geben, obwohl er selbst doch nur Fragen hat

Was genau zu diesem Zeitpunkt in der Anlage passiert ist, wissen nicht einmal Experten. Umso interessierter folgte am Montag viele tausend Kilometer weit entfernt eine Gruppe Studenten in Ulm dem Vortrag von Eberhard Grauf. Das Thema: „Station Blackout“. Grauf ist der ehemalige Leiter des Atomkraftwerks Neckarwestheim 1. Derzeit bildet er künftige Reaktorfahrer aus. Und ausgerechnet in dieser Woche soll es um Stromausfall (Station Blackout) und Kernschmelze gehen.

Schon zu Wochenbeginn bekamen seine Schüler reichlich Anschauungsmaterial. Denn es passierte, was Fachleute wie Grauf am Vortag befürchtet hatten: Es gab eine Wasserstoffexplosion im Reaktorgebäude vomn Meiler 3. In diesem Siedewasserreaktor werden Brennelemente benutzt, die Plutonium enthalten. Umherfliegende Betonfragmente durchschlugen die Hülle des benachbarten Reaktors, bei dem am Montag früh das Kühlsystem ausgefallen war. Ein Gutes hat das unfreiwillige Bombardement: Beim Reaktor 2 könnte eine Wasserstoffexplosion vermieden werden, weil das Gas durch das Loch abziehen kann, bevor es die kritische Knallgasgrenze erreicht.

Die beiden Wasserstoffexplosionen, die erste fand in der Anlage 1 schon am Samstag statt, haben die Reaktorgebäude so stark zerstört, dass die Abklingbecken inzwischen im Freien liegen. Dort werden die verbrauchten Brennelemente zur Abkühlung in Wasser gelagert, bis sie transportfähig werden. Aber es könnte noch sehr viel schlimmer kommen. Bis Montagnacht haben die inneren Stahlbehälter der defekten Brennstäbekammern der wachsenden Hitze und dem Druck standgehalten. Wenn die nicht mehr direkt gekühlten und teilweise schmelzenden Brennelemente in ihrem Gehäuse gehalten werden könnten, es wäre ein Glücksfall. Doch noch immer ist das Risiko weiterer Wasserstoffexplosionen nicht gebannt. Und es kann passieren, dass ein Reaktorkern durch seine Außenhülle hindurchschmilzt und große Mengen Radioaktivität unkontrolliert freigesetzt werden.

„Alle haben bisher immer gesagt, es sei sicher“, sagt Hideto Sotobayashi. „Diese Atomreaktoren sind zu gefährlich. Warum werden die noch betrieben, warum so nah an der Küste, wo die Gefahr von Tsunamis besteht?“ 82 Jahre ist Sotobayashi alt. Am 6. August 1945 kämpfte er sich durch die zerstörte, brennende Stadt Hiroshima, barg einen toten Freund, rettete einen anderen, suchte stundenlang die eigene Mutter, die er zwar fand, die aber nur Tage später starb. Die Bilder von damals – sie haben ihn nie losgelassen, und sie werden es nie, solange er lebt. Die dem Erdboden gleichgemachte Stadt, Heimat für Zigtausende, Familien, die auseinander gerissen wurden, die Toten, die Hilflosigkeit. Jetzt blickt er in Berlin auf den Fernseher, in dem unablässig die Bilder seiner zerstörten und von einer atomaren Katastrophe bedrohten Heimat gezeigt werden, und nur ein Wort fällt ihm ein: schrecklich. „Es ist das erste Mal“, sagt er, „dass ich wieder so etwas sehe.“

Seit mehr als einem halben Jahrhundert lebt Sotobayashi in Berlin. Der emeritierte Professor der physikalischen Chemie fühlt sich hilflos. Seit Jahren schon, die er damit verbracht hat, vor einer Technologie zu warnen, die er für zu riskant hält. Nun hofft er, dass in Japan bald diskutiert wird wie in Deutschland, dass die Menschen auch dort anfangen zu überlegen, ob vielleicht doch nicht alles so sicher ist, wie es die Regierung verkaufen will. „Die japanische Politik muss sich ändern“, meint er und lacht, wenn er den Regierungssprecher sieht, der dieser Tage auf den Fernsehbildschirmen hinter Stehpulte tritt, einen Zettel in der Hand, einen Arbeitsanzug am Leib. Er wundert sich über den komischen Auftritt, die merkwürdige Kleidung. Die solle wohl auf harte Arbeit hindeuten, sagt er und lacht wieder. Es klingt bitter.

Die Wolke zieht aufs Meer und kontaminiert dort ein Kriegsschiff

Mittags will ein Kamerateam zu ihm kommen und ihn interviewen, den Atombomben-Überlebenden, der nun vielleicht Zeuge eines atomaren Super-GAUs werden könnte. Er wird erzählen, wie er sich fühlt und versuchen, Antworten zu geben, auch wenn er selbst nur Fragen hat.

Auch Weber sucht nach Antworten. Sehr bald schon könnten ihn die Ereignisse in den Unglücksreaktoren zum Flüchtling machen. „So schön die Vorstellung ist, Tokio einmal ganz für uns alleine zu haben“, sagt Jesper Weber, „wir werden uns hier in keine Gefahr begeben. Je nach Lage und Wetter würden wir unsere Sachen packen, das heißt, gepackt ist schon, wir müssten sie nur noch greifen, und uns nach Südwesten zu den Schwiegereltern nach Fukuoka aufmachen, von dort vielleicht weiter über Korea oder China nach Europa.“ Eine Weltreise, weil die Insel im drohenden Atomregen zu klein ist und das Ehepaar, um zum Tokioter Flughafen Narita zu gelangen, auf das Akw und die Wolke zufahren müsste.

Die Webers haben es so verabredet: Bei schlechten Nachrichten treffen sie sich zu Hause, um die Lage einzuschätzen und dann zu entscheiden, ob sie nach Westen oder anderswohin fliehen, ob sie sofort mit den Massen wegmüssen oder abwarten, um nicht Gefahr zu laufen, im Gewühl auseinandergerissen zu werden.

Dass Japan, das hypermoderne Land, archaische Szenen der Panik erleben könnte, dafür fehlt den meisten Japanern die Vorstellungskraft. Aber es mehren sich die Vorzeichen. Ab sechs Uhr am Montagmorgen sollte der Strom in und um Tokio rationiert werden. Dafür wurden die Verwaltungsbezirke in den Präfekturen in Sektoren unterteilt, die dann alternierend jeweils drei Stunden ohne Elektrizität waren. Damit, so hoffte man, würde der Überlastungskollaps des Stromnetzes verhindert werden. Jeder Haushalt ist angehalten, Strom zu sparen. Die Webers haben bereits ein paar Glühbirnen aus der Fassung gedreht.

Strom ist zur Mangelware geworden. Zehn Millionen Kilowatt fehlen täglich, seit die zehn Meiler in Fukushima nicht mehr liefern. Die Bahnlinien haben den Zugverkehr im Umland weitläufig eingestellt, damit Züge auf offener Strecke nicht liegen bleiben. Viele U-Bahnen fahren nach reduziertem Fahrplan und auf verkürzten Strecken, Rolltreppen sind außer Betrieb. Es wird empfohlen, auf dem Weg zur Arbeit Turnschuhe zu tragen.

Einige Kaufhäuser und Supermärkte bleiben tagsüber geschlossen oder haben die Öffnungszeiten verkürzt. Die Bücherei hat geschlossen, um keinen Strom zu verbrauchen. Einige Geschäfte haben Schilder an die Tür gehängt, dass zwecks Stromsparens zwar alles dunkel, aber offen sei. Und das am sogenannten „White Day“, einer japanischen Antwort auf den Valentinstag. „Ich wollte etwas Schokolade kaufen, um Kumiko mit einem Kuchen eine kleine Freude zu bereiten“, erzählt Weber „In den ersten Supermarkt kam ich gar nicht erst rein. Vor dem Eingang hatte sich eine lange Schlange gebildet, der Einlass wurde von einem Türsteher geregelt. Der Convenience Store nebenan war leergekauft. Allerdings wurde gerade etwas Milch und Orangensaft angeliefert. Habe ich natürlich sicherheitshalber gekauft.“

Kumiko wird ihren Kuchen bekommen. Weber hat es sich selbst versprochen. Seine Frau ist am Montag früh ins Büro aufgebrochen. Es kamen nur sechs von mehreren hundert Kollegen bis Mittag in der Firma an.

Hyon Suk Chung ist an diesem Morgen fünf Stunden unterwegs gewesen. Erst radelte sie eineinhalb Stunden von ihrem Wohnort in Tokios Nachbarpräfektur Saitama zum Bahnhof Kita-Senju, von wo aus Züge in die Innenstadt gingen. Aber sie hatte die Idee nicht allein. „Es waren ungeheure Menschenmassen da“, erzählt sie. Geduldig stellte sie sich in die Schlange. Doch nach drei Stunden hatte sie genug und fuhr auch noch die letzten zehn Kilometer ins Büro in Tokios Zentrum.

So pflichtbewusst viele Japaner an disem Tag nach dem Tsunami-Unglück sind, manchen hält die drohende Strahlenwolke zu Hause. Noch wird sie aufs Meer getrieben. Und weit draußen im Pazifik, wohin der ablandige Wind die in Fukushima ausgestoßenen Caesium- und Jod-Partikel trägt, ist es zu ersten Kontaminationen gekommen. Der amerikanische Flugzeugträger USS Ronald Reagan soll durch eine radioaktive Wolke gefahren sein. Die US-Navy hatte das Schiff in die Region beordert, um sich an den Rettungsarbeiten zu beteiligen. Bei mehreren Crewmitgliedern ist binnen einer Stunde eine Monatsdosis Strahlung gemessen worden.

20 Jahre nach dem Tod von Sotobayashis Mutter starb auch sein Vater an Krebs. Er selbst hatte einen Tumor im Darm, sein Blut wird jährlich untersucht. Auf dem Bildschirm kann er sehen, wie Menschen im Gebiet um den Reaktor Fukushima mit Geigerzählern auf Strahlung untersucht werden. Hideto Sotobayashi hat einen Neffen in Tokio. Dem jungen Mann geht es gut. Aber er weiß, was passieren kann, wenn der Wind sich dreht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false