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Politik: Jeder für sich und alle für einen

DIE GESUNDHEITSREFORM

Von Tissy Bruns

Ist das nicht ungerecht? Diese Frage begleitet alle Vorschläge zur Reform unserer Sozialsysteme. Die Antwort ist stets ein lautes Ja. Denn es sind Minderheiten, oft große Gruppen der Gesellschaft, die künftig draufzahlen müssen und deshalb die Gerechtigkeitsfrage schrill intonieren. Dieses Schicksal erleiden gerade die Vorschläge der HerzogKommission, die Angela Merkel in der CDU durchsetzen will. Besonders groß ist die Aufregung um die „gleichen“ Kopfprämien für die Krankenversicherung, die einmal die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten und ungleichen Beiträge ablösen sollen.

Um vorweg eine Prognose zu wagen: Die Kopfpauschale in ihrer reinen Form wird ebenso wenig kommen wie die Bürgerversicherung, die im rot-grünen Lager Hochkonjunktur hat. Beide Modelle sind hochkompliziert; nur wenige Politiker können wirklich mitreden, von den Bürgern ganz zu schweigen. Worüber aber alle mitreden können und sollten, das sind die Maßstäbe, die wir an die Gesundheitsversorgung legen wollen.

Und müssen: Gesundheit wird teurer, wenn der Mensch nicht 60 oder 70 Jahre lebt, sondern über 80. Volkswirtschaftlich und für jeden Einzelnen. In dieser Hinsicht sind beide Vorschläge, Kopfpauschale und Bürgerversicherung, latent unehrlich. Die Kopfpauschale gaukelt den Besserverdienenden das schlagartige Sinken ihrer Gesundheitskosten vor. Weil endlich alle Bürger zahlen sollen, verbreitet die Bürgerversicherung die Hoffnung, wir könnten beim Gewohnten bleiben. Beides stimmt nicht: Bei der Kopfpauschale wird den Mittelschichten das Geld über Steuern wieder aus der Tasche geholt, das für den Gerechtigkeitsausgleich an die unteren Einkommen aufgebracht werden muss. Bei der Bürgerversicherung werden mit der Ausweitung des Versichertenkreises auch neue Leistungen fällig. Der erste Maßstab an jeden Vorschlag ist deshalb: Nimmt er die veränderte demografische Entwicklung nüchtern und konsequent zur Kenntnis? Bezogen auf die rot-grüne Bürgerversicherung und die CDU-Kopfpauschalen lautet die Antwort: Wir sind noch nicht am Ende der Illusionen.

Aus der demografischen Entwicklung leitet sich ebenfalls der zweite Maßstab ab. Wie immer auch organisiert, muss die Gesundheitsversorgung letztlich aus den Kräften der relativ kleiner werdenden erwerbstätigen Bevölkerung bestritten werden. Es muss deshalb viel schärfer danach gefragt werden, was die allgemeine Versicherung, was der einzelne Bürger tragen kann. Risiken wie Zahnkorrekturen oder Zahnersatz müssen künftig von allen Einkommensschichten privat abgesichert werden. Denn dabei handelt es sich um kalkulierbare Kosten. Alle Bürger müssen genauer überlegen, wofür sie das Gesundheitswesen in Anspuch nehmen. Ein Blick zu den Nachbarn in Europa zeigt, dass die Gebühr für den Arztbesuch kein sozialpolitisches Verbrechen ist. Und die Ärzte sollten es nicht als Einschränkung ihrer Berufsfreiheit beklagen, wenn sie ihre Rechnung auch gegenüber den Patienten offen legen müssen. Vor allem muss im Gesundheitswesen konsequent gespart werden, bevor ihm neue Mittel zufließen. Und dabei darf es keine Schutzzonen um die Pharmaindustrie und die Ärzteverbände geben.

Der dritte Maßstab sind die Arbeitskosten in Deutschland. Rente, Pflege, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, alle Versicherungen sind direkt an die Arbeitsverhältnisse gekoppelt – und haben die Arbeit so teuer gemacht, dass die Sozialversicherungen zur Quelle der größten Ungerechtigkeit geworden sind. Sie versperren Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt und nehmen ihnen die Möglichkeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Die paritätische Finanzierung ist deshalb kein unbedingter Gerechtigkeitsmaßstab. Im Gegenteil. Allerdings ist der radikalste Vorschlag auch nicht zwingend der beste. Denn in gewissem Maß sind die Gesundheitskosten immer „eingepreist“ in Löhne und Gehälter.

Bleibt schließlich der große Maßstab: Solidarprinzip oder private Absicherung. In einer alternden, individualisierten Gesellschaft muss jeder Einzelne auf die Hilfe der Gemeinschaft rechnen können. Das ist ein Anspruch aller vorliegenden Vorschläge. Die Wahrheit ist: Das Solidarprinzip ist nur zu halten, wenn es viel mehr private Verantwortung gibt.

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